Mehr als 500 Menschen bei der zweiten Mahnwache der jüdisch-arabischen Friedensinitiative auf dem Wiener Platz der Menschenrechte.
„Ich denke, ich spreche im Namen vieler Menschen hier, wenn ich sage, dass die letzten Wochen absolut verheerend waren. Für viele von uns waren sie nicht nur deshalb verheerend, weil wir oder unsere Freund:innen vielleicht Freund:innen oder Angehörige durch Terror und Krieg verloren haben, sondern auch, weil viele von uns den Raum verloren haben, um um alle zivilen Opfer zu trauern, ob sie nun Israelis oder Palästinenser:innen sind. Ich habe das Gefühl, dass es zu einer umstrittenen Position geworden ist, Empathie für alle Opfer von Gewalt zu empfinden, auch wenn sie zur „anderen Seite“ gehören. Es ist zu einer umstrittenen Position geworden, sich gegen das Töten unschuldiger Menschen zu stellen und ein Ende des Krieges zu fordern.“ Dies ist der Beginn der Rede von Isabel Frey, die sie Sonntagabend bei der mittlerweile zweiten Kundgebung innerhalb von zwei Wochen auf dem Platz der Menschenrechte vor dem Wiener MuseumsQuartier gehalten hat – die ganze Rede, die zum Besten und Differenziertesten gehört, das in den vergangenen vier Wochen nach dem ungeheuren brutalen Terror-Überfall der Hamas im Süden Israels gesagt worden ist, darf Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… veröffentlichen – sie ist in einem eigenen Artikel, der am Ende dieses Beitrages verlinkt ist.
Mehr als 500 Menschen waren zu dieser „Mahnwache“ vor und rund um das von Ulrike Truger gestaltete Denkmal an Marcus Omofuma, der im Zuge einer Abschiebung im Flugzeug gefesselt mit zugeklebtem Mund erstickte (Mai 1999), gekommen. Aufgerufen hatte die oben schon kurz beschriebene Initiative „standing.together.vienna“. Zu Beginn wurde gebeten, weder Fahnen noch Logos zu hissen. Die Kundgebung selber solle ein konfliktfreier Raum sein und bleiben – jenseits aller ideologischen, ethnischen, religiösen und sonstiger Unterschiede. Sogar eigene Awareness-Teams wanderten umher, für den Fall, dass sich jemand unwohl fühle oder Angst habe. Diese Ehrenamtlichen blieben „arbeitslos“.
Den Auftakt zur Kundgebung spielten die kurdischen Musikerinnen und Sängerinnen Sakîna Têyna und Özlem Bulut. Sie kennen das Leben als verfolgte Angehörige einer Minderheit und sangen unter anderem ein Wiegenlied – niemand auf der Welt solle Angst um ein kleines Kind in der Wiege haben!
Kunst und Künstler:innen bekamen überhaupt mindestens soviel Raum wie Redner:innen – wobei manche beides verbanden. So bat das Kunst-Duo Osama Zatar (geboren im palästinensischen Ramallah) und Inbal Volpo (aus Oranit, Israel) um eine Minute der Stille mit brennenden Kerzen. Die beiden sind Teil der Initiative One State Embassy, die wenigstens in der Kunst alle Grenzen der Welt überwinden will.
Isabel Frey, die schon eingangs erwähnte Rednerin ist jiddische Sängerin und brachte das Lied „A shtik fun harts“ (Ein Stück vom Herzen – das in viele Teile zerspring/zersprungen ist) von Josh Waletzky zu Gehör – Video-Ausschnitt ist in diesem Beitrag verlinkt. Der bekannte Marwan Abado konnte als Abschluss sein Instrument (Oud) nicht mehr spielen, da nach zweieinhalb Stunden seine Finger schon zu kalt dafür waren, er sang über die Sehnsucht nach einem ganz langweiligen Tag in Palästina, an dem einfach „nichts passiert“ – auch da Videoausschnitte verlinkt.
So wie die kurdischen Sängerinnen eigene Erfahrungen mit dem jetzigen Nahost-Krieg verbanden, so tat dies auch die Rednerin Medina Abau. Sie habe eine Mutter aus dem Iran und einen Vater aus dem Kosovo, wo vor Jahren am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen sie 182 Tage nichts von den Verwandten väterlicherseits gehört und täglich um deren Leben gezittert hätten. Seit dem Vorjahr, seit dem Tod von Jina Mahsa Amini engagiere sie sich verstärkt für die Demokratiebewegung im Heimatland ihrer Mutter.
Nadine Sayegh, Autorin des Buches „Orangen aus Jaffa“, spielte mit dem Brechen von Klischees. Sie begann auf Französisch zu begrüßen, um Arabisch fortzusetzen und sich eine Kufiya (traditioneller palästinensischer Schal) um den Hals zu hängen. Und sie versuchte – trotz der aktuellen fast aussichtslosen Lage auf Frieden – Mut zu machen. Auch in Südafrika sei die Apartheid überwunden, in Ruanda der Völkermord der Hutu an den Angehörigen der Tutsi-Minderheit (geschätzte 800.000 Tote in knapp mehr als drei Monaten), überwunden worden. Auch wenn damit nicht alle Konflikte und Probleme vorbei wären.
Der Tenor aller Reden, aller künstlerischen Beiträge, der gesamten Kundgebung: Allen zivilen Opfern gedenken – und als Konsequenz die Forderung nach einem Waffenstillstand sowie humanitärer Hilfe für die Bewohner:innen Gazas. Der Krieg wirft aber auch Schatten nach Europa, Auswirkungen sind hier spürbar wie der extrem gestiegene Antisemitismus, aber auch antimuslimischer Rassismus habe zugenommen, konstatierte Muna Duzdar, Nationalratsabgeordnete der SPÖ. „Es darf nicht einmal der Eindruck entstehen, dass Menschen feiern, wenn Menschen getötet werden!“, verlangte sie. Anderseits dürften Menschen niemals als „Kollateralschaden“ bezeichnet und getötet werden. Außerdem kritisierte sie das Abstimmungsverhalten des neutralen Österreich in der UNO bei der Resolution, die in der Vorwoche sofortigen Waffenstillstand und humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung verlangte.
Immer wiesen Redner:innen auf einen herumgereichten, groß ausgedruckten, QR-Code hin, mit dem Teilnehmer:innen zu einer Petition an die österreichische Bundesregierung kamen/über die untern verlinkte Homepage kommen. Diese beginnt mit dem Satz „als Mitglieder jüdischer und arabischer Gemeinschaften in Wien, vereint in unserem Bestreben nach Frieden und Gerechtigkeit in Israel und Palästina und als besorgte österreichische Bürger*innen und Bewohner*innen dieses Staates, sind wir zutiefst bestürzt, sowie enttäuscht darüber, dass Österreich gegen die Resolution der UN-Generalversammlung, die einen sofortigen Waffenstillstand im blockierten Gazastreifen fordert, gestimmt hat.“
Und weiter heißt es: „In einer für so viele Menschen tragischen Zeit verurteilen wir unmissverständlich sowohl die brutalen Angriffe der Hamas auf Israel, bei denen 1.400 Israelis getötet und über 3.000 verletzt wurden, als auch die israelische Blockade und Bombardierung des Gazastreifens, bei der über 9.000 Palästinenser*innen getötet, zehntausende Menschen verletzt und 1,4 Millionen Zivilist*innen in Gaza zur Flucht aus ihren Häusern gezwungen wurden.
Um eine weitere Verschärfung der bereits katastrophalen humanitären Lage zu verhindern, muss die Bombardierung des Gazastreifens sofort eingestellt und die unverzügliche Lieferung von dringend benötigten Nahrungsmitteln, Wasser, Strom und medizinischer Hilfe sichergestellt werden.
Wir appellieren dringend an die österreichische Bundesregierung, besonders in ihrer Rolle als Vertretung eines neutralen Staates, sich gegen die Tötung aller Zivilist*innen auszusprechen und einzuschreiten. Jede Intervention muss darauf abzielen, die anhaltende Gewalt zu beenden und den Konflikt zu deeskalieren. Wir würden uns auch wünschen, dass sich Österreich für integrative, langfristige Lösungen in der Region einsetzt, um Frieden, Gerechtigkeit und Sicherheit für alle zu erreichen. …“
Walter Baier, Vorsitzender der europäischen Linken, der selber, wie er sagte, aus einer kommunistisch-jüdischen Familie stammt – eine Großmutter wurde im KZ Auschwitz ermordet, der Vater überlebte, schwer gezeichnet, das KZ Dachau, fand es unter anderem „un-erträääglich“, dass rechte Politiker zynisch die Shoah, den systematischen Mord der Nazis an Jüd:innen, instrumentalisieren, um den Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung zu rechtfertigen. Dagegen gilt es realpolitisch anzuerkennen, dass es auf diesem Gebiet zwei Völker gibt, die beide das Recht haben, in Sicherheit, Frieden und Würde zu leben.
Die Shoah sei ein Verbrechen weißer Europäer an weißen Europäern gewesen. Dafür heute die Palästinenser:innen haftbar zu machen wäre ein Ausdruck des Kolonialismus, der noch immer die Mindsets in europäischen Staaten präge.