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Yara Nußbaumer las ihre und andere Text vor
Yara Nußbaumer las ihre und andere Text vor
23.06.2023

Die Freiheit des Vogels

Hier der Text einer der Schüler:innen der fünften Klasse der „Modellschule Graz“ (privates Gymnasium mit bildnerischem Schwerpunkt). In Kooperation mit dem Dramatiker:innenfestival 2023 entstanden Texte, Bilder und ein PodCast – Ausstellung im Festivalzentrum Vorklinik.

Was denke ich, fragen sie mich, wenn ich da oben kreise. Was mache ich, wenn Schranken und Pässe sie stoppen, wenn Linien auf Papier und Namen auf Karten ihr Leben verändern?
Ich denke, Papier ist wertlos, genau wie zwei Hände, wenn ich doch Flügel habe. Ich denke, Namen sind ein Kompass, keine Wände, Mauern, Zäune. Ich denke, die eine Seite des Schranken sieht gleich aus wie die andere. Ich denke, ich kann solange weiterfliegen bis meine Flügel schmerzen und mein Bauch vor Hunger schreit.
Ich sehe, und sehe nur die Grenze wie ein Baum, ein Stein, ein Meer. Ein Ding wie alle Anderen. Hier und da, bedeutungslos.
Aber sie sehen nicht wie wir in der Luft es tun.
Wenn die Möwe an der Küste streift, die Krähen auf den Bäumen krächzen, der Bussard über Felder kreist, dann fliegen, krächzen, kreisen sie und leben wie sie leben, hier und dort, bis sie es nicht mehr tun. Und der Vogel sieht einen anderen und erkennt ihn als Gleiches, als Lebewesen, wie sie alle sind und er sucht nicht nach Namen auf Karten, nach Linien auf Papier um zu urteilen. Warum sie das dort unten tun?
Ich fliege und fliege und als ich an ihnen vorbeiziehe, fängt sich der Wind in meinen Federn und die Sonne ist meine Kompassnadel, die einzige Karte die ich brauche und ich habe kein Papier, kein Geld, keinen Namen.
Ich bin hier und dann dort. Über ihre Linien, Namen, Leben. Und ich spüre keine Mauer, keinen Zaun, kein Netz das mich fängt, kein gar Nichts, nur den Wind in meinen Federn.
Wie sie dort unten stolpernd, gehen, wandern, flügellos und sie haben nicht mal die halbe Welt als ihre Heimat und dann die Linien, Linien, Linien, keiner raus, keiner rein. Und mir gehört der Himmel und die Erde und Papier ist wertlos.

Yara Nußbaumer