Montagmittag, Herbstferien. Gut zwei Dutzend Schüler:innen und einige Lehrer:innen trudeln auf dem Wiener Minoritenplatz ein. Ihr Ziel ist in diesem Fall nicht das Bildungs- sondern das Innenministerium am anderen Ende des Platzes gleich beim U-Bahn-Aufgang.
Sie haben eigenhändig geschriebene Kartontafeln mitgebracht, die sie nun auspacken. „Kranke Kinder abschieben?? Bitte nicht!“ oder „Jaba braucht Hilfe!“, „Gute Menschen für Österreich: Jaba“. Der Name des 16-Jährigen, der in den vergangenen Tagen schon durch etliche (soziale) Medien gegangen ist, steht auf der zuletzt genannten Kartontafel in rot-weiß-roten Streifen. „Eine Abschiebung würde ihm alles nehmen“, heißt es auf einer weiteren Tafel.
Der Bursche ist Klassensprecher in der Abschlussklasse der Mittelschule Redtenbachergasse (Wien-Hernals). Vor fünf Jahren kam er mit seiner georgischen Familie nach Österreich. Er litt an Blutkrebs (Leukämie), die Familie ließ ihn zuerst in der Türkei behandeln, wofür sie rund 28.000 Euro bezahlen musste, nachdem sie ihr Hab und Gut in Tiflis verkauft hatten. In Istanbul wurde der Familie geraten, für die bestmögliche Behandlung nach Österreich zu reisen, das St. Anna Kinderspital wäre die optimale Stelle.
Das tat die Familie. Jaba wurde erfolgreich behandelt, die Intensivtherapie ist abgeschlossen, Erhaltungstherapie bzw. regelmäßige Kontrollen sind aber jedenfalls erforderlich. In der Zwischenzeit konnte er längst die Schule besuchen, wenngleich er aufgrund häufiger Krankenhaus-Aufenthalte ein Schuljahr im Verzug ist. Seine Mitschüler:innen bestätigten vor Mikrophon aber auch in Einzelgesprächen, wie gut er die Sprache beherrscht. Und nicht nur das, sie wählten ihn zum Klassensprecher, „weil er sehr respektvoll, hilfsbereit und vertrauenswürdig ist“´, wie Sena und Mansaroob Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… erklären. „Außerdem ist der voll integriert, hat in der Schule auch ein Schachturnier gewonnen.“
Zur Kundgebung waren nicht nur Klassenkolleg:innen, sondern auch Schüler:innen anderer Klassen gekommen. Die wussten gar nicht alle von seiner Krankheit. „Darüber hat er nicht viel geredet, er ist ein ruhiger, sehr netter Kerl“, sagt Danijela. Ali, Ahmed und Francesco „kennen ihn nur über seinen Bruder Saba mit dem wir in die Schule gegangen sind. Die ganze Familie ist sehr nett, freundlich, gut integriert.“
„Ich finde das einfach nicht in Ordnung, dass Jaba abgeschoben werden soll. Wo bleiben die Kinderrechte!“, schüttelt Zainab verständnislos und ärgerlich den Kopf angesichts der drohenden Abschiebung.
Wobei – wie Katharina Glawischnig von asylkoordination österreich aus den amtlichen Schreiben zitiert – dort – trotz Hinweisen auf Deutschkenntnisse behauptet wird, „Integration in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Sicht sind nicht erkennbar“.
Was nicht nur den Erfahrungsberichten der Mitschüler:innen sowie der Lehrer:innen, die nur anonym Auskunft geben dürfen, widerspricht, sondern auch allen Fakten: Von Schulerfolgen – seine Schwester Nini steht wenige Monate vor der Matura, der Vater arbeitet in einem unbefristeten Dienstverhältnis, die Mutter hat eine Job-Zusage…
Und die Entscheidung sei auch insofern rechtswidrig, weil die Kinder/Jugendlichen gar nicht angehört worden sind. Und dies sei immerhin aus den Schlussfolgerungen der Kindeswohlkommission Pflicht. Darauf wies Irmgard Griss in ihrer Rede hin. Die ehemalige Höchstrichterin war nach dem aufsehenerregenden Fall der Abschiebung von Tina (ebenfalls nach Georgien, die nun wieder, weil die Entscheidung als rechtswidrig aufgehoben worden ist, in Österreich die Schule besucht) zur Leiterin der vorübergehenden Kindeswohlkommission bestellt worden. Erkenntnisse der Expert:innen: Kindeswohl ist jedenfalls vorrangig zu berücksichtigen, Kinder sind eigenständig zu beurteilen und sie müssen angehört werden.
Das wäre als würden Schüler:innen bei Tests oder Schularbeiten vieles falsch und fehlerhaft erledigen, brachte es Elisabeth Schaffelhofer-Garcia Marquez vom Netzwerk Kinderrechte auf den Punkt.
Jouly, stellvertretende Klassensprecherin, die ebenfalls bei der Kundgebung sprach, gestand, dass ihr fast die Tränen gekommen seien, als sie vom Schicksal ihres Kollegen Jaba erfahren habe. Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… erzählte sie auf Nachfrage noch ausführlicher über den Klassensprecher: „Er war gar nicht wie viele andere Jungs. Jaba streitet nie, er ist immer nett und erst dadurch, dass er Klassensprecher und ich -stellvertreterin bin, haben wir jetzt in der Klasse ein viel besseres Verhältnis zwischen Mädchen und Jungs.“
„Zum wiederholten Mal beweist das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), dass Kinderrechte in ihrer Beurteilung keine Rolle spielen“, zeigt sich Christian Oxonitsch, SPÖ-Nationalratsabgeordneter und Vorsitzender der Wiener Kinderfreunde in einer Aussendung am Sonntag verärgert.
Hinter den Kundgebungsteilnehmer:innen steht eine himmelblaue Sitzgelegenheit mit einem großen Aufkleber des ums Eck beheimateten Außen- und Europaministeriums: in bunten Streifen steht in großer weißer Schrift: „Our rights our future“ (Unsere Rechte unsere Zukunft)!
Am Rande der Kundgebung erfuhr Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr…, dass auch an einer anderen Schule, dem Gymnasium in der Anton-Krieger-Gasse (Wien-Liesing) die langjährige Schülerin Maroa Alzobai von der Abschiebung bedroht ist.
Dagegen läuft – ebenso wie gegen die drohende Abschiebung von Jaba und seiner Familie – eine Online-Petition – Links am Ende des Beitrages.
Familie Alzobai lebt seit acht Jahren in Österreich, Maroa ist seit 2016 Schülerin der Anton-Krieger-Gasse, besucht jetzt die 7. Klasse. In der Petition wird sie so beschrieben: „Maroa war schon immer eine engagierte und fleißige Schülerin. Sie ist zielstrebig und hat große Ambitionen, und weiß ganz genau, was sie im Leben erreichen möchte. Es wäre definitiv nicht in Ordnung, sie nach 8 Jahren abzuschieben. Der Irak ist nach wie vor von Unsicherheit geprägt, und die wirtschaftliche Lage ist instabil. Für Maroa gibt es dort einfach keine realistische Zukunftsperspektive. Nach all den Jahren, die sie in Österreich verbracht hat, wird sie es schwer haben, sich in einem unsicheren Umfeld zurechtzufinden, insbesondere in einem Land, das ihr nicht mehr vertraut ist. Generell ist zu sagen, dass die Familie Alzobai sehr bemüht ist, arbeitet und ihren Pflichten treu nachgeht.
petitionen -> bleiberecht_fur_familie_alzobai
petition -> jaba-und-seine-familie-sollen-bleiben
Sie sind so 14/15 Jahre (vierte Klasse Gym), eine eingeschworene Freund:innen-Crew, die schon so manchen Kampf mit ungerechten Lehrer:innen oder überheblichen Macho-Jungs ausgefochten haben. In diesen Sommerferien fahren ihre Familien nicht weg, weshalb Adriana, Hannah, István, Leila und Yasmin ihre freie Zeit vor allem in den Höfen jenes Wiener Gemeindebaus in dem sie alle wohnten, verbrachten.
Soweit das Ausgangs-Szenario des kürzlich im Wiener Literaturhaus vorgestellten Jugendromans „komm runter!“ – das sich vor allem aus dem Spruch ergibt, wenn die eine oder der andere bei der Gegensprechanlage läutet, um die Freund:innen zusammen zu trommeln. Sabrina Myriam Mohamed hat mit einem Kapitel namens „All inclusive“ im Vorjahr einen der exil-Literaturpreise gewonnen. Im Interview mit Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… hatte sie damals verraten, dass dies nur der Beginn eines Romans war. Den hatte sie in groben Zügen fertig. In den folgenden Monaten wanderte der Text mehrfach zwischen ihr und der Lektorin Christa Stippinger hin und her. Stippinger ist auch Gründerin, Herz und Seele dieses Verlages, in dem heutige Größen wie Julya Rabinowich, Dimitré Dinev, Didi Drobna oder Susanne Gregor ihre ersten Bücher veröffentlicht haben.
Die Namen des jugendlichen Quintetts deuten schon die Vielfalt an wie sie unter Wiener Kindern und Jugendlichen üblich ist. Und so lässt die Autorin neben vielen (Alt-)Wiener Ausdrücken wie sich „aufpudeln“, „blöde Funzn“, „haaß“ (für wütend, sauer und in dem Fall nicht für hohe Temperatur), „herumstierln“ und andere organisch in den leicht und immer wieder vergnüglich lesbaren Text ebenso einfließen wie Begriffe auf Arabisch, BKS (Bosnisch/ Kroatisch/ Serbisch), Englisch, Romanes, Ungarisch. Viele erklärt sie gleich mit Fußnoten auf der jeweiligen Seite, einige hat sie in ein eignes Glossar am Ende der rund 180 Seiten gepackt.
Diese Vielfalt, die oft so „nebenbei“ daherkommt und nie aufgesetzt, bemüht oder gar pädagogisch wirkt, kennzeichnet den Roman, der viele Jugendliche ansprechen könnte. Es ist einer der Beweggründe dafür, dass sie ihn geschrieben hat. Ähnlich wie Thomas Brezina sagt, er schreibe die Bücher, die er gern als Kind gelesen hätte, sagt die 27-jährige Autorin im Interview mit KiJuKU-Praktikantin Stefanie Kadlec unter anderem: „Ich habe nie wirklich ein Jugendbuch gefunden, wo ich mich komplett identifizieren konnte, und ich wollte ein Buch schreiben, wo sich mehr Leute wie ich identifizieren können.“ (Link zum gesamten Interview am Ende des Beitrages.)
„Leute wie ich“ sind solche, die selbst oder deren (Groß-) oder gar schon (Urgroß-)Eltern neu nach Österreich oder Wien gekommen sind – und selbst trotz mehrerer Generationen noch immer als „Ausländer“ oder „netter“ formuliert „mit Migrationshintergrund“ abgestempelt werden. Und so kommt eine durchaus ähnlich erlebte Szene vor, in der Yasmin, längst Gymnasiastin, auf ihre ehemalige Volksschullehrerin Susi trifft, die (nicht nur) ihr nahegelegt hatte, Gymnasium wäre nix für sie – dieser Abschnitt ist im Bericht über die vorjährige Preisverleihung zitiert.
Aber nicht nur rassistische Lehrkräfte wie „Frau Susi“, sondern auch Macho-Jungs kriegen ihr literarisches Fett ab. Wenn Burschen laut und goschert mit „wallah, Allah“ auf den Lippen samt sexistischen, abwertenden Schimpfworten Mädchen etwa Ballspielen im „Käfig“ verbieten wollen, dann lässt die Autorin ihre fünf Hauptpersonen auch nicht auf den Mund fallen.
Sabrina Myriam Mohamed baut im ungefähr letzten Drittel des Romans aber noch eine sehr spannende Wendung ein, die dich als Leser:in aus dem lockeren Ferien-Alltag von Adriana, Hannah, István, Leila und Yasmin rausreißen und mitfiebern lassen. Navid, so etwas wie ein Cousin von Leila, ist von der Abschiebung bedroht. Die involvierten Eltern wollen das von den fünf Jugendlichen fernhalten, die kommen irgendwie zufällig drauf, wissen aber nicht mehr, reimen sich einiges zusammen und entwickeln einen Schlachtplan zur Verhinderung – ohne Navid selbst einzubeziehen. Da geht’s einigermaßen turbulent zu – mehr sei nicht gespoilert, die Spannung soll bleiben.