Itzik Hanuna ist ein Schauspieler im Theater Na Laga’at in Jaffa, dem südlichen, arabischen Teil von Tel-Aviv (Israel). Und das seit Langem, obwohl der 59-Jährige in dieser Profession erst ein Spätberufener ist. „Eigentlich wollte ich gar nicht Schauspieler werden, aber das Theater hat mich vor vielen Jahren gefragt. Und ich hab dann doch zugesagt“, erzählt er den Vertreter:innen des internationalen Projekts, das sich mit Inklusion durch Kreativität und Kunst beschäftigt (Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… hat mehrfach berichtet – Links unten am Ende dieses Berichts).
Der 59-Jährige stellt im Workshopraum des Theaters den Teilnehmer:innen aus Schweden, Belgien, Polen, Deutschland, Österreich und natürlich Israel (aber die kannten ihn und das schon) sein erstes Buch vor. Mit den Fingern streicht er über die weißen Seiten mit erhabenen Punkten – in Braille-Schrift. Hanuna wurde blind geboren. Im Alter von ungefähr elf oder 12 Jahren verlor er aufgrund einer Meningitis-Erkrankung auch sein Gehör. Die Lautsprache hatte er da natürlich schon lange verwendet. Aber wie kommen Fragen, wie anderes Gesagtes an ihn?
Dazu entwickelten er und das sehr auf Inklusion bedachte Theater eine eigene Sprache. Neben ihm sitzt bei der Buchpräsentation Neta Yona von Na Laga’at und tippt auf die Handrücken des Schauspielers – und Autors. Im Gegensatz zum Lormen, das oft von Taubblinden zur Kommunikation mit anderen verwendet wird, nicht auf die Hand-Innenflächen, sondern außen. Da Itzik Hanuna sein Leben lang schon in Braille las und schrieb, erfanden er – und seine Kolleg:innen eine Art getastete Braille-Schrift auf beide Handrücken – Glove-Language Handschuh-Sprache) nannte das die Theatermanagerin Efrat Steinlauf.
Wie schon im Artikel „Vom Mitleid zur Bereicherung“ angeführt, versteht sich Na Laga’at als inklusives Kulturzentrum – auf Augenhöhe von Menschen mit und ohne Behinderung(en) -, mit 70 der 100 Beschäftigen, die gehörlos, blind oder beides sind. Und dies auch in Leitungsfunktionen, u.a. fast „natürlich“ in der Abteilung für Accessability (Zugänglichkeit). Es soll nicht nur in den Vorstellungen und Workshops fürs Publikum, sondern auch im eigenen Betreib auf Barrierefreiheit und Inklusion geachtet werden. Und so bot das gastgebende Theater den internationalen Gäst:innen auch einen Workshop in israelischer Gebärdensprache an – denn, was viele oft nicht wissen, Gebärdensprachen unterscheiden sich auch – oft nicht so stark wie Lautsprachen aber doch.
Parallel zum oben genannten EU-Projekt fand in dem Theaterhaus am alten Hafen von Jaffa- Tel-Aviv ein – aus einem anderen EU-Projekt unterstütztes Festival – Theater ohne Grenzen – statt – auch darüber berichtete KiJuKU schon. Und eine Diskussion und Präsentation verschiedener Theater- und Kulturprojekte mit unteschiedlichen, durchaus auch gegensätzlichen Zugängen. So setzte die Leiterin des schwedischen Riksteatern-Crea, Mindy Drapsa, auf ausschließlich gehörlose Künstler:innen und bezeichnete gehörlose Schauspieler:innen, die mit hörenden Regisseur:innen arbeiten würden als Marionetten. Der Vertreter aus Österreich, Gründer und Leiter von Arbos – Gesellschaft für Musik und Theater, Herbert Gantschacher hingegen sprach sich für die gleichberechtigte Zusammenarbeit hörender und gehörloser Künstler:innen aus.
Compliance-Hinweis: Die Berichterstattung konnte/kann nur erfolgen, weil Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr … im Rahmen des EU-Projekts von ARBOS auf diese Reise eingeladen worden ist.
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Bevor die Vorstellung beginnt, wird kurz ein Podest vor die Eingangstür in den Theatersaal aufgestellt. Zwei Leute besteigen es, Yaroslav Bernatsky hält aus einer Mappe groß gedruckte Wörter in Hebräisch und Englisch in Richtung der versammelten Zuschauer:innen, Alaa Arafeh übersetzt Willkommen, Bitte, Danke, Applaus und den Namen des Theaters und Inklusionszentrums Na Laga’at in (israelische) Gebärdensprache. Die ist hier in der ehemaligen Lagerhalle am alten Hafen von Jaffa allgegenwärtig.
Gehörlose ebenso wie blinde Schauspieler:innen und Tänzer:innen performen hier praktisch täglich. Ausgehend von einer Gehörlosen-Theatergruppe vor fast 20 Jahren entwickelte sich das Theaterhaus, das zuerst nur für die eigene Community ein wichtiger Treffpunkt war, bevor es unter neuer Leitung sich bewusst nach außen öffnete. Immer wieder kommen Besucher:innen vielleicht mit einer mitleidsvoll-gönnerhaften Einstellung zu Vorstellungen und verlassen mit Schamgefühl über die eigenen Vorurteile einer- und bereichert durch eindrucksvolle Aufführungen andererseits das Theaterhaus.
Mit manchen Aufführungen tourte das Theater durch mehr als die halbe Welt, Stücke wurden von mehr als einer Million Menschen gesehen. Famos „Brot“, in der ausgehend vom Bibelspruch, dass „der Mensch nicht vom Brot allein lebt“ der gesamte Vorgang vom Herstellen des Teigs bis zum Backen des Brots live auf den Bühnen vor sich geht. Die anfangs mit Masken auftretenden Schauspieler:innen – und in dem Fall auch Bäcker:innen – nehmen diese einzeln dann ab, wenn sie über sich und ihr Leben erzählen. Und mit dem Öffnen des Ofens gegen Ende erfüllen sie die Theaterräume jeweils auch noch mit dem Geruch des gebackenen Brotes – und laden (nicht bei Corona-Beschränkungen) das Publikum ein, auf die Bühne zu kommen., Brot zu kosten und mit den Künstler:innen ins Gespräch zu kommen.
Zu den ergänzenden Einrichtungen bei Na Laga’at gehört längst auch ein Restaurant, seit ein paar Jahren auch eines „im Dunklen“ – von außen in Form eines Schiffes -, Workshops in (israelischer) Gebärdensprache, die u.a. von vielen Schulklassen in Anspruch genommen werden. Seit ungefähr einem Jahr läuft auch eine eigene Schauspielakademie, um weitere Bühnenwillige professionell ausbilden zu können. Von den rund 100 Beschäftigen des Zentrums sind mehr als zwei Drittel (70) gehörlos, blind oder beides). Übrigens mehr als die Hälfte (60%) des jährlichen Budgets von umgerechnet rund 2,8 Millionen Euro werden durch Eintritte, Workshop-Gebühren, im Restaurant usw. verdient, ein Fünftel steuert die öffentliche Hand bei, die anderen fehlenden 20 % müssen über Spenden aufgebracht werden.
Na Laga’at – auf Deutsch „bitte berühren“ ist Teil eines internationalen Projekts mit dem etwas sperrig klingenden Titel der „Europäische und internationale Partnerschaften zur Entwicklung von Fähigkeiten und sozialer Inklusion mittels Kreativität und Kunst“ (European partnership for the development of skills and social inclusion through creativity and arts). Theater- und Kulturgruppen bzw. Institutionen aus Polen, Belgien, Schweden, Österreich und Israel arbeiten in diesem von der EU geförderten Projekt zusammen, treffen einander in den beteiligten Städten, um Erfahrungen auszutauschen. Über jenes im polnischen Łódź hat Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… im Herbst des Vorjahres schon berichtet – Link unten am Ende des Beitrages. Die anderen beteiligten Kulturinitiativen und -einrichtungen sind: Poleski Osrodek Sztuki, Instytut Tolerancji w Łodzi (Łódź, Polen), Theater Van A tot Z (Antwerpen, Belgien), Possible World, Norrköpings Stadsmuseum (Sweden), ARBOS – Gesellschaft für Musik und Theater (Klagenfurt/Salzburg/Wien, Österreich) und in diesem Fall dem gastgebenden Na Laga’at (Jaffa, Israel).
Zurück zum aktuellen Treffen in Jaffa, dem südlichsten und ältesten Teil von Tel Aviv (Israel): Am frühen Abend war im Workshopraum die Tanzperformance „Hirten“ (Sheperds) zu erleben. 13 Tänzer:innen – davon nur fünf Sehend – bewegten sich erst vorsichtig, dann mitunter immer wilder durch den Raum, „sahen“ einander durch Berührung, sanftes gegenseitiges Abtasten ihrer Gesichter. Fanden Geborgenheit in kleineren und größeren Gruppen, die sie auch wieder verließen, um allein oder zu zweit auf Erkundungstour zu gehen. Viele verwandelten sich – auf allen Vieren – in Tiere, die von den Hirt:innen behütet werden. Aber nicht nur. Eine (blinde) Hirtin vertraute ihren „Schafen“, die sich zu einem gemeinsamen Hügel zusammengestellt hatten, derart, dass sie sich rücklings darauf legte und tragen ließ.
So nebenbei sei darauf hingewiesen: Inklusion ist mittlerweile zu einem Wort, einem Begriff geworden, der seit einiger Zeit scheint’s in fast aller Munde ist. Aber… naja, was Praxis und Umsetzung betrifft, ist noch – um’s charmant auszudrücken – viel Luft nach oben. Erst kürzlich wiesen Aktivist:innen und Organisationen darauf hin, dass die vielleicht bekannteste Aktion in Österreich, die sich das Thema Menschen mit Behinderung auf ihre Fahnen heftet, „Licht ins Dunkel“ noch immer eher das Bild von Mitleid heischen und über den Kopf streicheln vermittelt. Dabei hatte schon vor weit mehr als zehn Jahren Betroffene mit der „Nicht ins Dunkel“ genau diese Haltung massiv kritisiert.
Aber, hier soll gar nicht gejammert, sondern die Berichterstattung über das oben genannte internationale Projekt fortgesetzt werden – weitere Berichte folgen.
Compliance-Hinweis: Die Berichterstattung konnte/kann nur erfolgen, weil Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr … im Rahmen des EU-Projekts von ARBOS auf diese Reise eingeladen worden ist.
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