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Szenenfoto aus "Die Rechnung"

Einschenken im Über-Fluss – und das immer wieder

Die beiden Schauspieler betreten die Bühne, auf der ein gedeckter kleiner quadratischer Tisch steht – weißes Tischtuch, Gabel, Messer, Löffel, ein Glas (das sich später als aus Plastik herausstellen wird), eine Serviette; zwei weitere Sessel, ein Tisch mit vielen Tischtüchern, Servietten und Besteck. Offenbar ein Restaurant.

Erklären, was kommen wird

Rund eine ¼ Stunde erklären die beiden – Frank Genser und Christoph Schüchner – was sie dem Publikum zeigen werden. Alles ganz einfach. Naja, ein bisschen kompliziert. Oder doch mehr… Das wirkt schon komisch. So beginnt „Die Rechnung“, ein Stück von Tim Etchells, Bertrand Lesca und Nasi Voutsas, das in der Regie des Ersteren derzeit im Rahmen der Wiener Festwochen und in Kooperation mit dem Volkstheater in den Bezirken von Spielort zu Spielort wandert.

Ober und Unter

Und dann spielen die beiden (Übersetzung: Astrid Sommer) genau das – und auch jenes, das sie wie angekündigt nicht spielen wollten. Den ständigen Rollentausch zwischen Gast und Kellner (Ober). Und damit den Wechsel von einer Art Herr und Knecht. Ist doch in unserem Wirtschaftssystem der „Kunde König“. Oder?

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Rechnung“

Wie auch immer. Gut zwei Dutzend Mal – in manchmal mehr, manchmal weniger Variationen spielt sich – mit wechselnder Besetzung – aber doch das Gleiche ab: Der Kunde will Wein, der Kellner bringt eine Flasche, zeigt sie dem Gast, der (meist) zustimmend nickt oder das auch sagt und ein kleines Schluckerl zum Kosten kriegt. Alles immer aus einer leeren Flasche.

Immerhin lebt Theater ja nicht zuletzt von der Vorstellung der Zuschauer:innen in ihren Köpfen. Ein gestreckter Zeigefinger und ein gekrümmter Daumen reichen, da würde es oft keine Pistole brauchen. Aber das nur nebenbei.

Über-Fluss

Also, der Wein scheint zu munden und so bittet – mal mit mal ohne Worte – der (jeweilige) Gast den Kellner, das Glas voll zu schenken. Die Flasche bleibt senkrecht. Also dürfte das Glas übergehen. Der (jeweilige) Kellner hält die Flasche weiter so. irgendwann kommt’s zum Eklat. Alles schwimmt. Versuch, die Sauerei aufzutupfen, wegzuwischen. Nein, alles ins Tischtuch, zusammengepackt und weg damit.

Und von neuem. Und wieder das Gleiche. Alle wissen was passiert. Manche nervt’s dermaßen, dass sie den Saal verlassen.

Kommt noch was?

Die allermeisten bleiben. Warten. Kommt da noch was? Gibt’s eine Pointe? Oder wird’s wenigstens noch schräger, absurder, skurriler? Eine Art Kirsche auf den Schlagobers-Haufen, der ohnehin schon zu fett ist?
Nun ja, schon und vielleicht doch auch nicht. Denn irgendwann meint das Duo – lass uns das Ganze noch einmal, aber 50 Jahre später spielen. Und sie beginnen die Szene recht zittrig, wie Tattergreise. Doch nach geschätzten zwei Minuten fallen sie da auch wieder in ihr altes Tempo.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Rechnung“

Naja, eine Änderung bahnt sich gegen Ende doch an: Die Frage, die sich aus dem Titel ergibt: Und, wer zahlt jetzt? – Wie das ausgeht, sei hier nicht verraten.

Ratlosigkeit, oder?

Auch unter jenen, die geblieben sind, herrscht vielfach Ratlosigkeit. Für ein Stück absurden Theaters à la Samuel Beckets „Warten auf Godot“ ist’s doch zu wenig überdreht. „Aber steht das Ganze als Metapher – und wofür?“, fragte eine Besucherin. Und versuchte – was wohl der Sinn der Übung ist – sich selber eine Antwort zu geben. „Könnte das für den Umgang der Menschen mit den Ressourcen des Planeten stehen?“ Die einen verschwenden alles im – in dem Fall sprichwörtlichen Über-Fluss. Tun’s. Obwohl sie wissen, wie schädlich es ist. Und das immer wieder.

Aus Fehlern lernen – offenbar nicht

Könnte genauso gut dafür stehen, dass die Menschheit nach wirklichen Katastrophen immer wieder behauptet, Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Und was tut sie?

Ingeborg Bachmann schrieb in ihrem 1971 veröffentlichten Roman „Malina“: „Die Geschichte lehrt, aber sie hat keine Schüler.“ Einen Satz, den sie sich möglicherweise von Antonio Gramsci ausgeborgt hat, der schon ein halbes Jahrhundert davor in „Ordine Nuovo“ formulierte: „Die Illusion ist das zäheste Unkraut des Kollektivbewusstseins; die Geschichte lehrt, aber sie hat keine Schüler.“

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Rechnung“

Leute harren aus

Übrigens knapp zwei Stunden bevor Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… „Die Rechnung“ im Theater Arche verfolgte, zitierten Jugendliche der Jury der jungen Leser*innen aus dem Bauch, das sie zu ihrem Favoriten („Toffee“ von Sarah Crossan; Übersetzung: Beate Schäfer; Verlag Hanser) erkoren hatten u.a. folgende Sätze:
„Aber Leute harren auch dann bei Fußballspielen aus;
wenn ihre Mannschaft am Verlieren ist
und mit Sicherheit geschlagen wird.
Sie bleiben in Filmen sitzen, die sie schrecklich finden,
statt rauszugehen
und ihr Geld zurückzuverlangen.
Leute bleiben andauernd –
ertragen Kummer und
Langeweile.“
(S. 176)

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Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Rechnung“
Szenenfoto aus "Elektra (The Show must go on)"

Humorvoll gebrochene Blicke auf eine antike gewalttätige Familie

Abseits von Kriegen ist Familie der gefährlichste Ort der Welt. Diese für viele (tödliche) Alltagserfahrung spiegelt sich auf Bühnen seit Jahrtausenden wider. Klassischer Fall sind antike griechische Dramen. Mit einem solchen Familien-Mord-Drama tourt das Wiener Volkstheater bis Ende Mai durch die Bezirke, meist in Volkshochschul-Sälen: „Elektra“, der Zusatz „The Show must go on“ verrät schon, dass nicht die antike Tragödie einfach 1:1 nachgespielt wird; abgesehen davon, dass es da schon verschiedene Versionen – Sophokles, Aischylos, Euripides gab, ja sogar bei Homer kam die Hauptfigur damals noch unter dem Namen Laodike vor.

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Szenenfoto aus „Elektra (The Show must go on)“

Die Story

Wie auch immer, zunächst die Grundgeschichte: Elektra, ihre Schwester Chrysothemis und ihr Bruder Orest beschließen, ihre Mutter umzubringen – aus Rache, weil die mit ihrem Liebhaber Ägisth den Vater der Geschwister, Agamemnon umgebracht hat. Und das wiederum dafür, dass dieser eine weitre Schwester der Kinder, Iphigenie den Göttern „geopfert“ hat, um Glück im Krieg zu haben. Ob er sie wirklich getötet hat oder den Göttern eine Hirschkuh unterjubelt hat, hängt von den antiken Versionen ab.

Wie auch immer, vor diesem Hintergrund startet das Geschehen auf der Wanderbühne – keine leichte Sache dank der unterschiedlich großen Bühnen und verschieden ausgestatteten Säle (Ausstattung: Jenny Theisen, Lichtkonzept und Musik: Max Windisch-Spoerk) mit dem Blick auf acht umgestürzte, fast wie riesige Mikado-Stäbe liegende Kunststoff-Nachgebilde griechischer Säulen. Also Zerstörung und Chaos gleich zu Beginn bevor noch die/der erste aufgetreten ist.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Elektra (The Show must go on)“

Mit einem Schuss Anklang an Clownerie

In knallgelben, ein wenig an Clown-Kostüme erinnernden Gewändern und lila Perücken, spielen Isabela Knöll (Elektra), Alina Schaller (Chrysothemis) und Til Schindler (Orest) aber nicht nur die mörderische Story selbst. Immer wieder treten sie aus ihren Rollen heraus, sprechen auch das Publikum an, zweifeln an dem, was sie spielen sollen. Und in den Rollen selbst, agieren sie als drei unterschiedliche Charaktere: Der Bruder versucht sich ganz rauszuhalten, haut für längere Zeit ab. Die titelgebende Figur drängt auf Durchziehen des Racheplans und ihre Schwester zweifelt, ob das letztlich was bringt, und nicht die Spirale der Gewalt nur fortgesetzt würde.

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Szenenfoto aus „Elektra (The Show must go on)“

Was wohl – aus der Situation – zu vermuten, Jahrtausende zurückblickend sich bewahrheitet hat. Und dennoch lässt das Schauspiel-Trio das Publikum in das fast ausweglos erscheinende Dilemma eintauchen. Aber auch sich immer wieder erholen und gar nicht zu wenig lachen – über Situationskomik ebenso wie Wortwitz (Fassung und Regie: Felix Krakau nach wie es in der Ankündigung heißt ein bisschen Euripides, Sophokles und Hofmannsthal.

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Szenenfoto aus „Elektra (The Show must go on)“

Heftige Brüche

Mitunter brechen sie humorvolle Szenen in null komma nix durch heftige Momente. Etwa, wenn die Schauspieler:innen von der Bühne in den Saal springen, Zuschauer:innen durch direktes Ansprechen fast schocken, zum Opfer auffordern – gut, klar, ist gespielt. Aber die Passagen, wo sie ihren Geschwisterstreit und vertrackte Lage ihrer problematischen Familie wegrücken von der antiken Ausgangs-Tragödie, hin auf allgemeinere leider zeitlose familiäre Gewaltspiralen, lässt schon mitunter heftig schlucken. Da kommt wohl das Heimito von Doderer zugeschriebene Zitat in den Sinn: „Wer sich in Familie begibt, kommt darin um“.

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