Lilly Axster stellte ihren jüngsten Roman kürzlich bei „Selbstlaut – Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ vor.
Irgendwann reichte es ihr. Nicht richtig wahrgenommen, oder zumindest fühlte es sich so an, beschloss die pubertierende Jugendliche, sich aus dem alltäglichen Hamsterrade möglichst zu verabschieden. Um den häufig gefühlten Zwischenzustand ebenso abzulegen, beschließt Jecinta ab nun ausschließlich J zu heißen.
So will sie auch angesprochen werden. Und sie deaktiviert sämtliche Social-Media-Apps. Nur mehr via SMS ist sie erreichbar bzw. neben Kommunikation von Angesicht zu Angesicht nutzt sie die schriftlichen Nachrichten über ihr Mobiltelefon. Dazugehören möchte sie ohnehin nirgends, vor allem in keine Schublade.
Gleichzeitig lässt Lilly Axster in ihrem neuen, jüngsten Werk „Ich sage Hallo und dann NICHTS“ vielschichtig, subtil, behutsam, oft in vielsagenden Andeutungen, immer wieder auch humorvoll tief in die Psyche (verletzter) Jugendlicher blicken. Da ist die schon genannte J, eine Jugendliche eher auf der Suche nach ihrem Platz in dieser Welt. In der Entscheidung bzw. dem folgenden Bemühen, „Nichts“ sein zu wollen, schwingt doch unausgesprochen zwischen den Zeilen mit: Ich bin doch wer und nehmt mich endlich wahr – so wie ich bin, sein bzw. gesehen werden will.
Dann taucht tatsächlich eine neue Mitschülerin auf, die J so nimmt wie sie es sich wünscht: Leonie, die sich selber Leo nennt, fallweise auch Mini- oder Checker-Leo oder noch wieder anders. Die beiden verstehen einander. Und doch ist es nicht so einfach, denn Leo, die in einer betreuten sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft lebt, ist nicht nur eine Persönlichkeit, sie ist viele, eine ganze Wir-Gemeinschaft. Das macht’s für J und andere nicht leicht. Für sie selber natürlich noch weniger.
Mit dieser Geschichte ging die aktuelle Christine-Nöstlinger-Preisträgerin fast zwei Jahrzehntelang schwanger – wie sie bei der Buchpräsentation schilderte. Immer wieder und vielfach hat sich der Ausgangsplot Pokerfache und Milchgesicht gewandelt. Und letztlich durch tragische Erfahrungen von Klient:innen von „Selbstlaut – Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen“, wo Axster arbeitet, zum jetzigen Roman.
Die Aufspaltung in Viele, vormals multiple Persönlichkeit, heute als dissoziative Identitäts-Struktur bezeichnet, ist eine Strategie (junger) Menschen (sehr) früh erlittene sexuelle Gewalt in organisierten, rituellen Gewaltstrukturen überhaupt psychisch überleben zu können. Diesen Hintergrund lässt Lilly Axster auf der vorletzten Seite im Buch direkt anklingen.
Trotz dieses argen Backgrounds ist der Jugendroman an keiner Stelle deprimierend – und vor allem gar nicht darauf beschränkt. Er spricht sozusagen fast allen Jugendlichen irgendwie aus der Seele – Troubles mit dem Nicht-Wahrgenommen-Werden, Probleme mit Eltern, Suche nach sich und Auseinandersetzung mit dem Umfeld, Außenseiter:innen-Dasein, dazugehören wollen oder lieber nicht…
Die beiden – oder ist es überhaupt nur eine und die andere „nur“ eine der Persönlichkeit einer Wir-Gemeinschaft? – sind jenseits aller Schwierigkeiten, die sie an den Rand drängen zu Außenseiter:innen machen, starke Persönlichkeiten.
„Hörst du immer noch keine Stimmen? Im Kopf, meine ich“, fragt Leo. Ich nicke. „Wie ist das, wie fühlt sich das an?“
Normal, will ich sagen, aber ich weiß sowieso nicht, was normal ist. Und wenn ich es wüsste, würde ich es nicht sein wollen. NICHTS ist nicht normal, sonst wäre es Etwas und nicht Nichts…“
Natürlich lässt die Autorin noch weiteres Personal auftreten, ihr Text ist wie praktisch jeder von ihr auch gefüllt mit Sprachspielen – in diesem Fall auch mit verspielten, teils springenden, Schriftarten am Beginn der meisten der 48 Kapitel.
Besonders witzige sind die „Hunde“-Geschichten die J mit Zineb teilt, einer Freundin – schon bevor Leo auf der Bildfläche auftauchte. Zineb hat einen Hund namens Mimmi. Mit Storys über den kriegt Zineb immer wieder J dazu, doch weiter zu kommunizieren und aus dem Nichts aufzutauchen. Und mit erfundenen – durchgezählten – über das Buch verstreuten skurrilen bis absurden Miniaturen über bellende und andere Geräusche von sich gebenden Hunden – diese jeweils in durchgängiger Kleinschreibung.
„hund acht: es war einmal ein hund, der hieß prince robert. Er lebte in australien. Manchmal rief er andere hunde an und bellte, winselte und schanubte ihnen auf die mailbox, was er erlebt hatte. Noch nie hat einer der anderen hunde abgehoben. Prince robert wusste nicht, ob es daran lag, dass hunde in der regel nicht telefonieren oder ob sie speziell seine nummer automatisch auf die box laufen ließen.“
Text, Grafik: Lilly Axster
Titelbild – mit Einfluss auf den Text: Louis Hofbauer
Ich sage Hallo und dann NICHTS
190 Seiten
Ab 14 Jahren
Tyrolia Verlag
Hardcover: 18 €
eBook: 14,99 €
Zu einer Leseprobe geht es hier
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Facebook. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenSie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Instagram. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenSie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von X. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr Informationen