Telefoninterviews mit Schulsprecher und Direktor einer Innsbrucker AHS zu Mental Health, psychotherapeutische Grundversorgung und Fit4School.
Wenn Corona mit seinen Folgemaßnahmen wie Lockdowns und Home-Schooling etwas Positives abgewinnen will, dann ist es einerseits ein Boost für eLearning und andererseits die Erkenntnis, dass Schule nicht nur Wissensvermittlung bedeutet, sondern vor allem Ort sozialer Zusammenkünfte. Das wussten viele natürlich auch schon vorher – vor allem Kinder und Jugendliche selber. Die haben auch schon davor sehr oft gesagt, dass für sie das Treffen von Freundinnen und Freunden mit zum Wichtigsten an Schule gehört. Erst durch das Fehlen genau dieses Begegnungsortes haben viele andere erst diese Bedeutung behirnt. Isolation, oder auch mehr als bedrückende, beengte Wohnverhältnisse, mangelnde technische Ausstattung in vielen Haushalten, Perspektivlosigkeit, Ohnmacht und vieles mehr machten auch psychische Gesundheit – mental health – zum gesellschaftlichen Thema.
Dennoch kommen heute auf eine/n Schulpsycholog:in oder gar -therapeut:in 1677 Schüler:innen. Diese Zahl wurde Ende der letzten Sommerferien im Mediengespräch „Back to School – Psychosoziale Versorgung für Schüler:innen, Eltern und Lehrpersonal ausbauen und langfristig sicherstellen!“ bekanntgegeben. Als Positivbeispiel hingegen wurde ein Projekt namens fit4SCHOOL genannt – nicht zu verwechseln mit einem gleichnamigen samt Internet-Präsenz unter diesem Titel, das sich mit dem Zusammenhang von Schlaf und Schulleistung beschäftigt. In rund 20 Schulen Österreichs (von mehr als 6.200) gibt es das Pilotprojekt einer psychotherapeutischen Erstversorgung/Anlaufstelle mittlerweile. Damals hatte Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr … gebeten, mehr darüber aus einer konkreten Schule zu erfahren.
Nun, in den Herbstferien war es so weit, Schulsprecher und Direktor des BRG Innsbruck, Adolf-Pichler-Platz (Tirol) stellten sich Telefon-Interviews. Tobias Wolff besucht jetzt die achte und damit Matura-Klasse. Das dritte Jahr ist der der gewählte Sprecher der rund 850 Schüler:innen. Zu seiner Überraschung ist er schon beim ersten Antreten in der 6. Klasse Schulsprecher geworden, „weil zuvor beinahe ausnahmslos Kandidaten aus den 7. und 8. Klassen gewählt worden sind.“ Damit fielen die ersten beiden Jahre praktisch voll in die Ausnahmesituation. Die Schul-Psychotherapeutin werde mehr als gut frequentiert, „„die eine Stunde in der Woche ist zu wenig, obwohl sie, was man ihr sehr hoch anrechnen muss, ohnehin die Zeit maßlos überzieht“, so Wolff. „Jene, die es in Anspruch nehmen, finden das Angebot sehr, sehr gut.“ Aber noch immer sei Psychotherapie mit einem Makel behaftet – wie auch die Umfragen zeigen. Aber mit dem Angebot in der Schule sei die Einstiegshürde doch gesenkt worden.
Die Entlastung angesichts des gesteigerten psychischen Drucks in der Pandemiezeit „war sehr stark Lehrkraft-abhängig. In der ersten Zeit wurde mehr Rücksicht genommen, jetzt herrscht großer Stress, versäumten Lehrstoff möglichst aufzuholen.“
Die angesprochenen Umfragen, die auf seine Initiative hin die Schüler:innenvertretung durchgeführt hat, war Teil einer Demokratie-Offensive – mehr Mitsprache, stärkere Einbeziehung. So wurde auch ein offenes Schüler:innen-Parlament geschaffen, wo einmal im Jahr alle Oberstufen-Schüler:innen – rund 350 – hinkommen, Stimmrecht haben und auch Anträge stellen können, die in der Folge auch online für alle, also auch jene, die online dabei waren, zur Abstimmung gestellt wurden.
Wolff erzählt im Telefoninterview von einigen Erfolgen: Schüler:innen dürfen ihre Klassenräume selber gestalten, Nachschularbeiten dürfen auch nur wie „normale“ spätestens in der vierten Schulstunde stattfinden. Außerdem verweist er auf zwei weitere
Anträge die das politische Interesse der Schüler:innen besonders deutlich machen: Einerseits ein Antrag auf Direktwahl der Unterstufenvertretung und die Evaluierung, ob das verpflichtende Kreuz in der Klasse noch zeitgemäß sei. In dem Gespräch – und auch den übermittelten Protokollen sowie Auswertungen der Umfragen klingt durch, was der künftige Student der Künstlichen Intelligenz in Linz direkt sagt: „Die Vertretungsarbeit ist für mich mittlerweile zu einer Leidenschaft geworden.“
Das APP (Adolf-Pichler-Platz) hat übrigens nicht erst im Rahmen des Pilotprojekts Fit4School begonnen neben Schulpsychologie auch psychotherapeutische Beratung anzubieten. „Im Schuljahr 2016/17 hatten wir erste Ideen für eine psychotherapeutische Grundversorgung in der Schule“, so Walter Nigg, der Schulleiter zum Journalisten. „Uns war eine Ergänzung zur Schulpsychologie wichtig. Wir hatten gesehen, dass Abtesten von Lernschwierigkeiten oder Teilleistungsstörungen nicht ausreichen, sondern auch andere Probleme wie Schulverweigerung anstanden wo wir Hilfe und Unterstützung anbieten wollten. Schule ist zwar nicht der Ort für eine Therapie, aber einer, in dem es eine Ansprechperson braucht, die zu entsprechenden Einrichtungen weiter vermitteln kann.“
Das begann im Schuljahr darauf – also 2017/18 – „in Zusammenarbeit mit allen – mit der Schulpsychologie, unterstützt vom Elternverein, dem Verein der Freunde der Schule, dem Tiroler Verband für Psychotherapie und privaten Geldspenden.“
Drei Säulen nennt der Schuldirektor, die abgedeckt werden sollten – und wurden: Beratung – einmal wöchentlich eine Stunde, manchmal wurden’s auch zwei oder drei und sowohl für Schüler:innen als auch für Lehrpersonen und Eltern -, abendliche Vorträge zu Themen aus dem Bereich (psychische) Gesundheit sowie die schon angesprochene Vermittlung zu anderen Einrichtungen.
„Im Großen und Ganzen gab es recht gute Rückmeldungen vor allem von jenen, die das in Anspruch genommen haben. Natürlich haben wir niemanden rein gezwungen, die Schulärztin war immer involviert.“
Auf Eis gelegen ist – wie vieles andere auch – diese Stelle in den Lockdowns. Wo es vielleicht besonders wichtig gewesen wäre. Aber über die Anordnungen der Gesundheitsbehörden konnten sich Schulen nicht hinwegsetzen und online funktionierte das nicht.
Ob und wie die Schule aber auf die doppelte und dreifache psychische Belastung der Schüler:innen gerade durch Lockdowns, Home-Schooling, Isolation usw. reagiert habe – auf diese Frage meinte Direktor Nigg: „Ich habe immer darauf gedrängt, Hausverstand einfließen zu lassen. Klar, Schule hat den Auftrag Schule der Wissensvermittlung, aber es braucht bei Arbeitsaufträgen und Hausübungen auch ein Augenmaß dafür was für die Schülerinnen und Schüler noch schaffbar ist. Und vor allem in der Gesamtbelastung, denn da gab es schon Auswüchse einzelner Lehrerinnen und Lehrer, die das nicht mit allen anderen abgesprochen haben.“
Da dürfte des Direktors Wunsch und Appell offenbar nicht bei allen Lehrpersonen auf offene Ohren gestoßen sein. Schulsprecher Tobias Wolff übermittelte Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr … auch die – anonymisierte – Auswertung von acht Umfragen unter den Schüler:innen zwischen November 2020 und März 2022. „Man hat zu viel Stress, weil man zu viel HÜ hat!!!!!“ – ein Satz oder auch nur verkürzt mit zu viel HÜ oder dem dringenden Wunsch nach weniger Arbeitsaufträgen, weil von den vielen Online-Stunden ohnehin schon geplättet, „gestresst und demotiviert“ kommen so und in Varianten immer und immer wieder vor.
Abschließend wollte Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr … vom Direktor noch wissen, wie sich der Einsatz der therapeutischen Grundversorgung, sprich vor allem Erstanlaufstelle über die Jahre ausgewirkt habe. „Wir haben dazu keine statistische Erhebung, aber in Einzelfällen konnten durch die Unterstützung Stabilisierungen festgesellt werden, dass Kinder und Jugendliche wieder Boden unter die Füße gewonnen hatten.“
Übrigens: Im eingangs genannten Mediengespräch wurden vom österreichischen Psychotherapie-Verband auch auf eine Untersuchung möglicher Gesamtkosten hingewiesen. „Geht man davon aus, dass 2 bis 4 psychotherapeutische Beratungsstunden pro Woche angeboten werden, bewegen sich die jährlichen Ausgaben für Schulen im Spektrum zwischen 8.000 und 15.000 €. … Eine Investition, die sich nicht nur für die betroffenen Schüler:innen, Lehrer:innen und Eltern auszahlt! Es gibt deutliche Hinweise, dass nach einer Psychotherapie die Einsparung gesellschaftlicher Kosten (z.B. Verhinderung stationärer Behandlungskosten) gegeben ist. Für jeden investierten Euro ist ein gesamtgesellschaftlicher Nutzen von 2 € – 5,5 € zu.“