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Flüchtlinge aus der Ukraine beim Deutschkurs im Rathaus von Großenzersdorf (NÖ)
Flüchtlinge aus der Ukraine beim Deutschkurs im Rathaus von Großenzersdorf (NÖ)
21.04.2022

Wie spät ist es? Intensiver, herzlich-strenger Deutschkurs für Ukainer:innen

Lokalaugenschein beim Sprachkurs einer ehrenamtlichen österreichisch-ukrainischen Geschäftsfrau für Erwachsene – 23 bis 89 Jahre – im Rathaus von Großenzersdorf.

„Es ist 11 Uhr 55 Minuten. Man kann auch sagen 5 vor 12.“ An diesem Vormittag stehen Uhrzeiten auf dem Programm des Deutschkurses für geflüchtete Menschen aus der Ukraine. In einem Sitzungsraum des Rathauses von Großenzersdorf (Niederösterreich, unweit der Stadtgrenze von Wien – nach Aspern und Essling) versammeln sich zwei Mal wöchentlich nicht ganz zwei Dutzend eifrige erwachsene Schüler:innen zwischen 23 und 89 Jahren.

Am Tag des Lokalaugenscheins von Kinder I Jugend I Kultur I und mehr … geben sie ihre handschriftlichen Hausübungen nach einer Ferienwoche bei der Ukraine-Fahne auf dem Tisch vor der Flip-Chart ab. Neben der Fahne steht ein Osternest. Das eine Fest ist vorbei, ihr eigenes, das der ukrainisch-orthodoxen Kirche, steht noch bevor. (Die orthodoxen christlichen Kirchen verwenden den julianischen Kalender.)

Flüchtlinge aus der Ukraine beim Deutschkurs im Rathaus von Großenzersdorf (NÖ)
Lehrerin und ihre Schüler:innen

Herzlich aber ganz schön streng

Mit Freude, immer wieder auch Lächeln und Lache, Herzlichkeit aber doch recht streng unterrichtet Irina seit einigen Wochen. „Guten Tag“, wahlweise „Grüß Gott“, „ich heiße… komme aus, … bin … Jahre alt…“ und vor allem wichtige Informationen, um Formulare ausfüllen zu können, standen in den ersten Einheiten auf dem Stundenplan. Hin und wieder rutscht ein englisches „and“ in Sätze, aber ohne Nachsicht drängt die Lehrerin aufs deutschsprachige „und“.

Seit ziemlich genau 30 Jahren lebt die toughe Geschäftsfrau, die in Rivne (Westukraine) geboren und aufgewachsen ist, in Österreich (verheiratet, drei Söhne) und packt „nebenbei“ immer wieder helfend und hilfreich vielerorts an. Seit Kriegsbeginn in ihrer vorherigen Heimat organisiert sie Sachspenden – siehe auch Reportage aus der Schule ihres Sohnes Niki, Link unten – und unterrichtet nun. Da sie unter anderem sowohl Ukrainisch als auch Russisch fließend beherrscht, kann sie mit ihren Schüler:innen natürlich auch in deren Muttersprachen reden. Und bei den Interviews des neugierigen Journalisten übersetzen – dyakuyu/ Дякую, spasibo/ Спасибо.

Wenigstens die Tochter retten

Und die haben’s in sich. Schwere Kost. Da werden Bilder aus TV, Internet und Zeitungen fast hautnah lebendig. Olena ist mit ihrer 22-jährigen Tochter aus Dnipro geflüchtet, „damit wenigstens sie überleben kann. Mein Sohn ist am ersten Kriegstag, einen Tag vor seinem 26. Geburtstag abgeschossen worden. Er war Kampfpilot“, erzählt die Englischlehrerin und zeigt auf ihrem Smartphone ein Video. „Das war sogar in den ukrainischen Nachrichten. Aber bevor er gekillt wurde, hat er immerhin noch viele Panzer und LKW der russischen Armee zerstören können“, findet sie Trost in seinem Tod. Jetzt zittert sie noch um ihren Ehemann. „Täglich können wir aber wenigstens telefonieren oder uns schreiben.“

Flüchtlinge aus der Ukraine beim Deutschkurs im Rathaus von Großenzersdorf (NÖ)
Mitschreiben und Video aufnehmen, damit auch das Gesprochene danach immer und immer wieder angehört werden kann – multimediales Lernen …

Geburtstag im Keller

An diesem Tag sind ausnahmsweise auch zwei Kinder hier. Noch haben Renat und Sofia keinen Schulplatz. Sie sein mit Mutter Anna und Vater Dimitriy erst seit fünf Tagen in Österreich. „Davor waren wir 23 Tage in einem Keller in Mariupol, Renat hat dort seinen sechsten Geburtstag gehabt“, erzählt die Aufseherin aus einem Frauengefängnis und kann die Tränen kaum zurückhalten. „Wir haben nur gegessen, geschlafen und immer Angst gehabt“, so die beiden Kinder, „nur unseren Hund und unsere zwei Katzen haben wir auch mitgehabt“. Als auch das Gebäude, in dessen Keller sie Zuflucht gefunden hatten, bombardiert wurde „und wir auch nichts mehr zu essen und kein Wasser mehr hatten, mussten wir raus“ erzählt die Frau. „Unser Auto im Hof war kaputt und damit konnten wir nicht flüchten“, ergänzt der Ehemann und Vater, der in einem Metallbetreib gearbeitet hatte.

Gerettet von russischen Soldaten

„Russische Soldaten haben uns und die anderen, die aus dem Keller flüchten mussten, insgesamt 19 Menschen, gerettet. „Sie gaben uns Essen, wir konnten uns bei ihnen duschen und sie waren sehr nett und freundlich“, berichten die beiden Kinder.

Die Flucht führte sie dann über Donezk, Russland, Lettland letztlich nach Österreich wo sei eine Tante haben. „Die beiden Katzen konnten wir nicht mitnehmen, aber unseren Hund Rosa haben wir hier“, freuen sich Sofia, die auf der Flucht zehn geworden war und Renat. Auf die Frage, was sie vor dem Krieg am liebsten in der Schule hatten, meint Sofia: „Zeichnen und Malen mag ich sehr gerne“, ihr Bruder: „Ich war erst in der Vorschule und bin dort am liebsten mit dem Dreirad gefahren.“

Ihr zweiter Krieg

Mit 89 Jahren ist Valentina die älteste der Schüler:innen in Irinas Kurs. „Sie ist unsere Oma, die Mutter meiner Ehefrau Tayisiya“, erzählt der 61-jährige Viktor – auf Deutsch. „Das habe ich in der Schule in Russland gelernt, aber ich habe schon viel vergessen. Das ist ja auch schon lange her“, entschuldigt sich der studierte Radioelektroniker. „Mit 18 Jahren bin ich aus Russland nach Charkiw zum Studium gegangen und in der Ukraine geblieben. Unsere Oma hat schon als Kind den großen, den zweiten Weltkrieg mitgemacht. In Tscherkassy musste sie sich vor den deutschen Soldaten im Kellre verstecken. Vor dem jetzigen Krieg haben wir unsere Oma aus Glukhiv Sumskaya zu uns geholt nach Petropawliwska Borschtschaiwka. Das liegt aber im Gebiet von Butscha und was dort los war, haben ja auch hier alle Menschen mitgekriegt. Wir mussten also rasch weg.“ Ehefrau Tayisiya zeigt das Smartphone und ergänzt: „Wir haben aus unseren Fenstern gesehen, wie das Nachbarhaus beschossen wurde und gebrannt hat.“

Und obwohl sie alle auf raschen Frieden hoffen und möglichst bald wieder zurück in ihre Heimat wollen – „unsere Oma redet jeden Tag viel davon“ – strebern sie sich intensiv in die Sprache ihres derzeitigen Zufluchtslandes ein.

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