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Doppelseite aus "Die weisen Tiere"
Doppelseite aus "Die weisen Tiere"
15.04.2025

Gänsemagd trifft zaundürres Kamel zwecks Gang durchs Nadelöhr

Die große Philosophin und gesellschaftspolitisch messerscharfe Kritikerin Hannah Arendt hat auch eine märchenhafte Geschichte geschrieben, die nun erstmals auf Deutsch erschienen ist.

„Die weisen Tiere“…

… heißt die Geschichte mit den eingangs zitierten ersten sechs Worten, die Anfang März 2025 zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlicht wurde – zusammen mit bunten, fantasievollen Zeichnungen von Hildegard E. Keller, die den teilweise verspielten Text erweitern. Die Illustratorin ist auch verantwortlich, dass dieses Buch überhaupt erst erschienen ist.

„Es war einmal ein kleines Mädchen…“ Was beginnt wie eines der klassischen Märchen, ist eine Fabel oder vielleicht auch Parabel über ein aufgewecktes, neugieriges weibliches Kind. Ausgedacht und geschrieben von einer Frau, die für ganz andere Texte berühmt geworden ist: Hannah Arendt, Denkerin, Philosophin, scharfsinnige gesellschaftspolitisch kritische Autorin diktatorischer Herrschaft, insbesondere des deutschen Faschismus (Nationalsozialismus), vor dessen Verfolgung sie flüchten musste.

Fremde Gans

Die Hauptfigur ist das einzige menschliche Wesen in der rund 80-seitigen Geschichte und bleibt namenlos. Sie hütet Tag für Tag Gänse, die sie frühmorgens aus allen Häusern abholt und mit ihnen auf die Weide marschiert. Eigentlich sind Gänse ja sogar Zugvögel. Einige Arten dieser Flieger wurden über Generationen von Menschen zu einer Art Haustier gemacht, weshalb sie kaum mehr ihre Flügel dafür verwenden wofür sie bestimmt sind.

Doppelseite aus
Doppelseite aus „Die weisen Tiere“

Eines Tages war da eine Gans mehr in der Herde, eine ganz besondere – mit einem wunderschönen schwarzen Fleck auf der Brust. Dieser fremden Gans widmete sich das Kind ganz besonders. Doch plötzlich erhob sich die in die Lüfte und flog davon.

Das wollte das Mädchen so nicht hinnehmen und machte sich auf den Weg, und wollte genau diese Gans ein- oder zurück.

Aber wie?

Nun, so beginnt das Abenteuer der entdeckungslustigen jungen Dame. Erst heuerte sie bei einem Piloten an, der der Gans nachfliegen sollte, doch ihr Manöver – über das Gans ab- und auf ihren Rücken zu springen, misslang. Gut für die Geschichte.

Vogelsprache

So landete das Mädchen wieder auf der Erde – bei einem Wald, wo sie vom Uhu erfuhr, sie könne sich bei den weisen Tieren Rat holen, die sich in einer großen Waldlichtung versammeln. Vom Uhu lernte das Mädchen übrigens rasend schnell die Vogel-Sprache.

Biblische Tiere

Und auf der Lichtung erlebte es so manche wundersame Tierbegegnungen, die sich aus fantastischen Erzählungen und nicht zuletzt aus metaphorischen Bibelbildern ergaben: Der Löwe, der friedlich neben dem Lamm liegt war eine solch ungewöhnliche neue Bekanntschaft. Aber sie stolperte auch über die Schlange, die angeblich schuld war, dass Eva den Apfel vom Baum der Erkenntnis angebissen hatte und damit gemeinsam mit Adam aus dem Paradies vertreiben wurde. Und sie traf auf ein vöööööllig abgemagertes Kamel. Diese erklärte dem Mädchen, weshalb es so mager sei: „Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt.“ Dieser Bibelspruch sei verantwortlich. Denn, wenn doch einmal so ein guter Reicher komme, dann müsse es eben durch die schmale Öffnung einer Nadel hindurch.

Doppelseite aus
Doppelseite aus „Die weisen Tiere“

Bei dieser Begegnung diskutierte das kleine Mädchen ganz schon ausgiebig, wie das denn sei, was Reiche tun müssten, um doch in den Himmel kommen zu können. Wenn sie alles weggeben, dann seien sie ja nicht mehr reich und so weiter…

Pegasus

Von so manch weiteren Tier-Bekanntschaften – alle fragte das Mädchen wie es zur weggeflogenen Gans käme – und einem ganz besonderen Ringelspiel wie hier nicht viel mehr als die reine Erwähnung geschrieben, soll doch nicht die ganze spannende, interessante, vielfältige Reise gespoilert werden. Zu nennen ist vielleicht noch ein langweiliges, selbstmitleidiges Mondkalb, vor allem aber das geflügelte Pferd Pegasus, das das Mädchen ans Ziel brachte – ins Land der Gänse mit unterschiedlichsten schönen Flecken…

Das Ende ist klassisch märchenhaft und ziemlich klischeehaft, was doch einigermaßen enttäuschend bei dieser Autorin ist.

Hintergründe

Im Nachwort erzählt die Hildegard E. Keller (Schriftstellerin, Illustratorin, Filmemacherin, Performerin, Professorin, Verlegerin, langjährige Jurorin beim Ingeborg-Bachmann-Preis), wie sie – im Zuge eines Romans über Hannah Arendt („Was wir scheinen“; 2021) bei der Recherche – auf diesen Text gestoßen ist, der erst nach ihrem Tod (4. Dezember 1975) in ihrem US-amerikanischen Zufluchtsort New York in ihrem Nachlass entdeckt worden ist. Hildegard E. Keller verfasst in diesem Nachwort auch einige Gedanken zu möglichen Interpretationen des Textes im Zusammenhang mit Hannah Arendts privaten Beziehungen.

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Titelseite von
Titelseite von „Die weisen Tiere“
BUCH-INFOS

Text: Hannah Arendt
Illustration (und Nachwort): Hildegard E. Keller
Die weisen Tiere
79 Seiten + 11 Seiten erklärendes Nachwort
Edition Maulhelden / Bloomlight Productions GmbH, Zürich
30 €
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