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Alle können zu bösen Wölfen werden - nachgestellte Szene aus dem Stück "Hannah Arendt auf der Bühne" von Theater Agora Belgien) beim Gastspiel im Parlametn (Wien)
Alle können zu bösen Wölfen werden - nachgestellte Szene aus dem Stück "Hannah Arendt auf der Bühne" von Theater Agora Belgien) beim Gastspiel im Parlametn (Wien)
17.04.2024

Das Ende kann ein neuer Anfang sein – ständiger Kampf um Demokratie

„Hannah Arendt auf der Bühne“ – ein Stück von Theater Agora aus Belgien nach dem gleichnamigen bebilderten Buch – gastierte im Wiener Parlament.

Vorwiegend grau gekleidet, Bühne und Saal düster bis dunkel. Schauspieler:innen und Musiker wandern vor drei verschiebbaren, durchscheinenden Elementen kreuz und quer, besprechen, diskutieren, wer wen spielen soll / darf. Wie das mit dem Wolfsgeheul ist. Ob das so kommen soll, dass sich die Zuschauer:innen fürchten oder gar, dass sie bitten, das Heulen zu wiederholen…

Ein etwas ungewöhnlicher Einstieg für das folgende Theaterstück. Natürlich war von Anfang an klar, wer wen spielt, aber so manche Überlegungen bei der Entstehung eines Stückes wurden dabei transparent. Warum sollte nicht auch ein Mann (Roland Schumacher) eine Frau spielen, oder ist die Jugend der Schauspielerin (Ninon Perez) vielleicht sogar ein Hindernis, die junge Hannah zu spielen – weil sie dann weniger spielt als in der Tat noch (fast) ein Mädchen ist?

Das Theater Agora aus der Region der deutschsprachigen Minderheit in Belgien spielte „Hannah Arendt auf der Bühne“ für vor allem Jugendliche des anderntags folgenden Lehrlingsparlaments.

Illustriertes Buch als Basis

Basis für das Stück war/ist das gleichnamige bebilderte Buch von Marion Muller-Colard (Text, deutschsprachige Übersetzung aus dem französischen Original: Thomas Laugstien) und Clémence Pollet (Illustration) – Buchbesprechung am Ende dieses Absatzes verlinkt.

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Am letzten Tag im Leben der kritischen Philosophin und Politikwissenschafterin (4. Dezember 1975 in New York) lassen Buch – und Stück – ein junges Mädchen namens Hannah auftauchen. Im philosophischen Diskurs zwischen den beiden und den Szenen, die sie spielen nachdem sie auf eine Theaterbühne gegangen sind, wird Hanna Arendts (gespielt von Karen Bentfeld) Denken – und Handeln, das ihr genauso wichtig war – sicht- und spürbar – Stück-Idee: Sascha Walters, Text: Ania Michaelis, die auch Regie führte, und Felix Ensslin.

Große und kleine Hannah und dem Fuchs als Symbol für jene, die sich zurückziehn und nicht einmischen wollen
Große und kleine Hannah und dem Fuchs als Symbol für jene, die sich zurückziehn und nicht einmischen wollen

Warum nur Männer auf der Agora?

Was das Theaterstück mehr bietet als das Buch ist einerseits das Live-Erlebnis samt wunderbar eingebauter Musik (Wellington Barros), die Teil des Geschehens wird, indem sie Stimmungen und Atmosphären nicht nur unter„malt“, sondern oft auch erst erzeugt. Und andererseits Ergänzungen, die die erzählte/gespielte Geschichte gegenüber dem Buch erweitern. Zunächst einmal fragt das Mädchen Hannah das Selbstverständlichste: Was ist auf der griechischen Agora mit den Frauen und den Kindern, wieso fehlen sie, warum reden und entscheiden nur Männer?

Alle können Wölfe werden

In dem Theaterstück von Agora – nicht in jenem im Buch – werden übrigens in einer Szene alle Spieler:innen zu Wölfen, stülpen sich die entsprechenden Masken (Céline Leuchter, die auch für Szenografie und Live-Technik zuständig ist und zeitweise mitspielt) über die Köpfe. Das könnte als Anspielung an den Gedanken gesehen werden, dass durchaus jede und jeder zur/zum Bösen werden könnte. Auch mit feinem Anzug und sogar vordergründig gesittetem Benehmen können Feinde der Demokratie ins Herz derselben stoßen – insofern auch ein sehr aktuelles Stück.

Als – nach dem Krieg – angeklagte Wölfe bringen sie eine Vielzahl von Ausflüchten, einige mehr als im Buch, alle aber laufen darauf hinaus, „nur“ den Befehlen von oben gehorcht zu haben, eigenständiges Denken oder gar Handeln – keine Spur.

Es war/ist mehr möglich

Keine Spur? Erfreulicherweise wird aber auch von Roland Schumacher ein Gegenbeispiel erzählt. Mit den Worten „ich steige hier aus“, schlüpft er aus seiner Rolle und schildert den Fall, dass ein Einwohner in der Gegend, aus der er selber kommt, in der Nazizeit einerseits Mitglied der mit den Nazis verbündeten „heimattreuen Front“ war, aber andererseits ein jüdisches Kind gerettet hat. Ein Beispiel dafür, dass der Sager davon, man hätte nicht anders handeln können, eine Ausrede ist – anderes Handeln war doch möglich – auch wenn es riskant bis lebensgefährlich war.

Demokratie immer wieder erkämpfen

Mit den genannten und noch vielen weiteren Szenen – nicht zuletzt um/mit dem Kuscheltier-Fuchs – dreht sich Stück (wie Buch) um Hanna Arendts ständige Auseinandersetzung mit Tendenzen und Ausprägungen von autoritären Strukturen, diktatorischer Herrschaft und dem Gegensatz dazu, dem erforderlichen ständigen Kampf um Demokratie, Diskussion. Nicht zuletzt auch mit sich selbst:
Große Hannah: „Ich bin nicht immer meiner Meinung.“
Kleine Hannah: „Aber – du bist doch du!“
Große Hannah: „Ja, und ich bin die geworden, die ich bin.“

Und noch lange nicht am Ende. Auch wenn ihr Leben an diesem 4. Dezember 1975 endete – sie lebt weiter – in ihren Schriften, Gedanken, die von anderen weitergetragen wurden und werden, nicht zuletzt der „kleinen“ Hannah – und dem Palindrom dieses Namens. „Ein Vorname, den man von links nach rechts und von rechts nach links lesen kann. Wenn ihr wieder angekommen seid beim ersten H, könnt ihr wieder anfangen zu lesen bis zum letzten H. Und so weiter, bis ihr nicht mehr wisst, ob nicht das Ende ein neuer Anfang ist.“

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Fürs Publikum suboptimal

Technisch vielleicht der optimale Raum im Parlament, ist er doch fürs Publikum nicht ideal, weil es keine Tribüne gibt und die Zuschauer:innen in den hinteren Reihen manches nicht gut sehen konnten/können. Auch das – und offenbar kam Vorbereitung – sorgten für doch einigermaßen Unruhe. Gebannt und konzentriert wurde es in jener Szene, als neu Wolfs-Herrscher die anderen autoritär zu „Juden!“ erklärten und sie damit sozusagen zum Abschuss freigaben.

Elise Richter

Die Bühne war aufgebaut im „Lokal 2“, einem Veranstaltungssaal im Parlament, das nach Elise Richter (1865 – 1943) benannt ist. Sie war die erste Frau, die sich an der Universität Wien zur Uni-Professorin habilitiert hatte. Die Unterstützerin der österreichischen Version der Diktatur (Austrofaschismus) wurde als Jüdin gemeinsam mit ihrer Schwester von den Nazis 1942 ins Ghetto Theresienstadt (eine Form der Nazi-Konzentrationslager) zwangsverschickt, wo sie im Jahr darauf zu Tode kam.

Käthe Sasso

Übrigens: Die Aufführung fand zufällig an jenem Tag statt, an dem bekannt wurde, dass am Vortag die bekannte österreichische Widerstandskämpferin Käthe Sasso (geborene Smudits) im Alter von 98 Jahren gestorben war. Smudits wurde als 16-Jährige von der Gestapo (Geheime StaatsPolizei) der Nazis erstmals gefangen genommen, landete später im Konzentrationslager Ravensbrück und überlebte den „Todesmarsch“ in ein weiteres KZ (Bergen-Belsen) knapp vor Ende der faschistischen Diktatur und des zweiten Weltkrieges. Als Zeitzeugin trat sie unermüdlich in Schulen und Diskussionen mit Jugendlichen auf.

Follow@kiJuKUheinz

INFOS: WAS? WER? WANN? WO?

Hannah Arendt auf der Bühne

nach dem gleichnamigen Buch von Marion Muller-Colard (Text) und Clémence Pollet (Illustration)

Idee: Sascha Wolters
Text: Ania Michaelis, Felix Ensslin
Regie: Ania Michaelis
Schauspiel
Hannah Arendt: Karen Bentfeld
Kind Hannah: Ninon Perez
Wolf und Musiker: Wellington Barros
Wolf und andere: Roland Schumacher
Wolf und Technik: Céline Leuchter

Szenografie, Masken: Céline Leuchter
Lichtdesign: Clemens Hörlbacher
Ton: Christopher Hafer
Kostüme: Petra Kather
Musikalische Leitung: Wellington Barros
Videografie: Conny Klar
Dramaturgie: Felix Ensslin, Sascha Wolters

Regieassistenz: Susi Muller
Künstlerische Leitung AGORA: Kurt Pothen

Agora-Theater -> Hannah Arendt auf der Bühne