„Mehr als alles auf der Welt“ – spannende fantasievolle Geschichte mit nicht ganz leichtem Stoff im Akademietheater (Wien).
Die Bösewichtin in grell-rosa Jacke von der „Familie“ greift auf die Wand hinter ihr, wo sich ein gezeichneter Berg von Fischstäbchen befindet. Nimmt eines – und animiert – wirft sie es in einem hohen Bogen, wo es am Ende den Kopf von Kim trifft. Die 13-jährige wird wiederum von einer Live-Schauspielerin (Isabella Knöll) und greift sich vor Schmerz an den Kopf.
Comicfiguren werden lebendig, besser gesagt lebendige Schauspieler:innen treten immer wieder in Aktion mit animierten Figuren neben und hinter ihnen auf verschiedensten Wänden (Animation, Video & Bühne: Paul Barritt). Dieses doch eher ungewöhnliche Zusammenspiel klappt die zwei Stunden (eine Pause) in „Mehr als alles auf der Welt“ der britischen interdisziplinären Künstler:innengruppe „1927“ hervorragend – geschrieben und inszeniert von Suzanne Andrade. Verleiht der Geschichte einen oft verblüffenden Charme und zieht den mit Kindern und Jugendlichen vollbesetzten Saal des Wiener Akademietheaters in den Bann. Animiert mitunter auch zum rausrufenden Antworten auf Sager auf der Bühne.
Die Geschichte beginnt mit fantasievollen Geschichten, die der Vater (Markus Meyer) Kim und ihrem deutlich jüngeren (geschätzt 8 bis 10 Jahre) Bruder Davey (eine animierte, gezeichnete Figur) schreibt. Er sei in geheimer Mission unterwegs und verspäte sich deswegen. Immer und immer wieder eine neue Episode. Bis – Clementine (Andrea Wenzl), ein Mädchen aus der unmittelbaren Nachbarschaft, ihre Oma, bei der sie lebt, belauscht. Und draufkommt. Kims und Daveys Vater sitzt im Gefängnis.
Da zerbricht für Kim eine Welt. Die liebevolle, innige über Briefe funktionierende Beziehung zum Vater kriegt einen tiefen Riss: „Du hast mich belogen! Warum?“ Als sie die Tatsachen ihrem Bruder verklickert, meint der, er hätte es ohnehin geahnt, aber in dem Spiel mitgemacht. Überraschend schnell kann der Vater den Bruch durch einen Entschuldigungsbrief wieder kitten. Wenngleich das erste reale Treffen bei seinem ersten Haft-Freigang sehr verhalten verläuft.
Die Mutter (Alexandra Henkel), die fürs Funktionieren der Familie und des Haushalts sorgt – fast unbedankt – wird am Ende zur Heldin, in dem sie Sally, eine Art Sozialarbeiterin (Stefanie Dvorak), mit deren Plan, Davey in eine Art Internat zu stecken, damit er nicht auch kriminell werde, abblitzen lässt und dafür kämpft, dass er ganz normal in die Schule gehen kann, die Kim auch besucht. Auch wenn die mindestens zwei Mal im Stück das Sch…-Wort für diese nennt. Nicht da, aber bei anderen Fäkalwörtern lacht ein Großteil des (sehr) jungen Publikums fast befreit auf – nach dem Motto: „Wenn sogar die das auf der Bühne sagen dürfen …“
Bemerkenswert auch der spontane Beifall, als Kim den Burschen der sie bedrängt, einfach wegstößt! Diese Szene ist aus jenem Abschnitt in dem Stück, in dem sich Kim entschließt, der „Schutzgeld“-Mafia-Gang „Familie“ (siehe Beginn dieses Beitrags) anzuschließen. Aber nur kurzfristig.
Neben der zu klischiert dargestellten jungen Nachbarin Clementine ebenso wie ihrer Oma – obwohl beide von Menschen gespielt sind sie flacher als manche der animierten Figuren und Tiere „gestrickt“ – sind die schnellen, kaum nachvollziehbaren, Wendungen ein Manko der ansonsten spannenden Inszenierung in der Musik & Sounddesign (Laurence Owen) ebenso eine wichtige Rolle spielen wie das Licht mit seinen vielen Wechseln (Marcus Loran).
Im Interview mit Andreas Karlaganis vom Burgtheater, der gemeinsam mit Ben Francombe Shelley Hastings für die Dramaturgie des Stücks, das übrigens erst danach auf Englisch erarbeitet wird, erklärt die – multimediale Künstler:innengruppe (Schauspiel, Trickfilm, Animation, Musik) den nicht alltäglichen Namen des Kollektivs: „Der erste Tonfilm kam 1927 heraus. Daraufhin ist der Live-Aspekt des Kinos verlorengegangen. Denn es gab einmal Orchester, Musikbegleitung und Live-Performances bei Filmvorführungen.“ (Zitat aus dem Programmheft zum Stück, das noch viel Spannendes zur Arbeitsweise von 1927 enthält.)
Auf die Feststellung von Karlaganis, dass die Geschichte sowohl von der Kraft aber auch der Gefährlichkeit der Fantasie handle, meinte die Autorin und Regisseurin Suzanne Andrade: „Wir halten ein leidenschaftliches Plädoyer für di Vorstellungskraft. Umso spannender fanden wir es, zu erforschen, an welchem Punkt Geschichten möglicherweise schädlich werden, wenn man anfangen muss, mit der Wahrheit zu leben. Geschichtenerzählen ist ein wunderbarer Weg, belastende Dinge zu verarbeiten. Doch Fantasie wird immer wieder eingeschränkt, auch und gerade im englischen Schulsystem.“
kreiert von 1927, geschrieben von Suzanne Andrade
Aus dem Englischen von Robin Detje
Eine Graphic Novel auf der Bühne für alle von 8 bis 108
Ab 8 Jahren; 2 Stunden (eine Pause)
Regie: Suzanne Andrade
Es spielen
Vater u.a.: Markus Meyer
Kim u.a.: Isabella Knöll
Sally u.a.: Stefanie Dvorak
Mutter u.a.: Alexandra Henkel
Clementine u.a.: Andrea Wenzl
und die Stimme von Gregor Benner
Ko-Regie: Esme Appleton
Animation, Video & Bühne: Paul Barritt
Kostüme: Sarah Munro
Musik & Sounddesign: Laurence Owen
Licht: Marcus Loran
Dramaturgie: Andreas Karlaganis, Ben Francombe, Shelley Hastings
AV Operating: Leann Young
Komparserie: Thelma Guđbjargardóttir
Inspizienz: katja kiesewalter
Soufflage: Annemarie Fischer
Bühnentechnik: Peter Auenhammer
Toneinrichtung: Christoph Keintzel
Tontechnik: Alexander Geiger-Wagner, Annemarie Schagerl
Videotechnik: Johannes Traun, MaxWesener
Mitarbeit bei Programmierung der Animationen: Shaun Prickimage
Produktion: 1927Jo Crowley
Bis 16. November 2022
Akademietheater: 1030, Lisztstraße 1
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