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Szenenfoto aus "Vercheert"
Szenenfoto aus "Vercheert"
11.09.2021

Vercheert: Die „Wunderkammer“ unseres Sehens live gebaut

Gubcompany aus der Schweiz: Zwei Performerinnen und zwei Fotografen bauen eine Camera Obscura auf und bespielen sie.

Wenn die Zuschauer:innen den Saal betreten ist die Bühne leer. Nichts zu sehen. Vermutlich bauen sie was auf, denn an den Seitenwänden neben der Tribüne lehnen große Kartonplatten sowie hölzerne Rahmen mit Transparentpapier. Das Saallicht bleibt noch an, vier Leute tragen nun diese genannten Teile und dazu ein Rollwägelchen mit dem Rumpf und Kopf einer Art Schaufensterpuppe auf die Bühne. Aus den Platten beginnen sie einen Würfel zu bauen, teils mit artistischen-clownesken Einlagen. Kaum ist dieser große Würfel fast fertig, stellen sie starke Lichtquellen an Stativen in die Kiste, das Saallicht fährt runter, bis es ganz aus ist und aus der Kiste noch kräftiges Licht an einigen Stellen der Würfelkanten rausdringt, fast blendend. Diese Stellen werden noch verklebt. Und eine der Tänzerinnen, die sich durch eine kleine, seitlich in den Karton geschnittene Tür in den Würfel begibt, bohrt in der Vorderwand ein großes Loch. Davor halten die anderen Transparentpapier Plötzlich sehen wir die Tänzerin auf dem Kopf stehen. Wenn sie auf Zuruf einen Kopfstand machen, sehen wir sie aufrecht.

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Ein wunderbares Stück Science-Theatre liefert die Schweizer Gubcompnay mit „Vercheert“  beim 33. Theaterfestival Luaga & Losna (schauen und hören) im Feldkircher „Pförtnerhaus“. Ohne theoretische Erklärungen erleben Zuschauer:innen, wie sehen eigentlich funktioniert. Durch ein kleines Loch/Linse steht das Bild Kopf. Nur haben wir gelernt, dass die Realität auf den Füßen steht, unser Hirn lernt das von Anfang an und dreht die Bilder um.

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Live hinter die Kulissen blicken

Das Spannende an dem rund einstündigen Stück ist nicht nur, dass wir sozusagen das Making of der sogenannten Camera Obscura (dunkle Kammer) beobachten, sondern auch die Funktion hautnah erleben, begreifen. Und in der Folge noch sehen und hören dürfen, wie das Ensemble aus zwei Performerinnen (Maria Rebecca Sautter, Vera Bommer) und zwei Fotografen (Jojakim Cortis und Adrian Sonderegger) mehrere Löcher in die Wände bohren. Das Bohren bzw. Sägen wird zum Sound, das Lochtrio in der Frontwand – lässt uns die Bilder aus dem Inneren des Kubus Performerin und Luftballons dreifach überlappend, ineinander gehend sehen. Normalerweise, wenn die Bohrmaschine nicht während der Vorstellung den Geist aufgibt, sind’s fünf Löcher in Kreuzform rund um das Mittelloch, was einen Kaleidoskop-Effekt ergäbe. Damit geht das Ensemble souverän durch offene Ehrlichkeit um, indem es die Panne dem Publikum gesteht.

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Wundern

Staunen, Wundern. Die Erinnerung an einen Satz aus dem Stück des Vorabends („Das Leben ist wie ein Fisch an der Wand“) „Die Welt ist voller Wunder. Doch dann haben die Menschen die Langeweile erfunden.“ Für „Vercheert“ (Konzept/Regie/Dramaturgie: Christine Rinderknecht, Heinz Gubler und das schon genannte Ensemble) gilt nur der erste Satz. Staunen, wundern, Begreifen. Und miterleben, dass die Mitwirkenden selber viel Spaß bei ihrer leidenschaftlichen Arbeit haben.Ach, so geht das! Je länger das Spiel und Experimentieren auf der Bühne geht, umso verwirrender wird es – und Zuschauer:innen kennen sich teilweise nicht mehr aus, was ist jetzt wo, links oder rechts, oben oder unten.

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Andere Experimente

Es gibt Versuche mit Speziellen Brillen mit Spiegeln oder Prismen, die Bilder von oben nach unten oder links nach rechts verdrehen. Nach einer gewissen Zeit kann unser Hirn auch das checken und doch aufrechte Bilder liefern. Und streikt, wenn in solchen Brillen dann die Spiegel ständig ge- und vertauscht werden.
Und wir verstehen jetzt nicht nur, wie Sehen funktioniert, sondern beginnen auch über Täuschungen durch (vermeintlich) Gesehenes nachzudenken.

Schematische Darstellung wie eine Lochkamera (Camera Obscura) funktioniert

Philosophische Überlegungen

Übrigens finden sich auf Wikipedia auch philosophische Überlegungen zu solchen Objekten: „Unter anderem nutzte Leonardo da Vinci die Camera obscura als Ebenbild des Auges, René Descartes für das Zusammenspiel von Auge und Bewusstsein und John Locke begann das Prinzip als Metapher des menschlichen Bewusstseins an sich zu benutzen. Diese moderne Verwendung der Camera Obscura als „epistemische (erkenntnistheoretisch, Anm. d. Red.) Maschine“ hatte wichtige Auswirkungen auf die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens. Nicht zuletzt benutzt Karl Marx’ Dialektischer Materialismus und dessen berühmter Anspruch, die hegelsche Dialektik vom Kopf auf die Füße stellen zu wollen (vgl. Die deutsche Ideologie 1845–46), den optischen Effekt als zentrale Metapher.“

Follow@kiJuKUheinz

Compliance-Hinweis: Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr … wurde vom Festival Luaga & Losna eingeladen.

INFOS: WAS? WER?

Vercheert

Ein visuelles Spektakel
Gubcompany (Schweiz)
Ab 6 Jahren

Konzept/Regie/Dramaturgie: Christine Rinderknecht, Heinz Gubler und Ensemble
Idee: Heinz Gubler
Performerinnen: Maria Rebecca Sautter, Vera Bommer
Live-Szenografie: Jojakim Cortis und Adrian Sonderegger (Fotografen des Jahres 2019)
Licht: Hansueli Trüb
Sound: Heinz Gubler
Augen von außen (dramaturgische Beratung): Benno Muheim
Produktionsleitung, Toru: Roland Amrein
Theaterpädagogik/Social Media: Pierina Bernetta

gubcompany