In „Rom*nja City“ erzählt das Ensemble einerseits eine wahre Menschen-Experimente-Geschichte der Nazis an Roma und andererseits den Kampf um eine utopische Stadt/Gesellschaft.
Aufbruch in eine Stadt befreiter Menschen (Mahagony) ist das Leitmotiv des Stücks „Rom*nja City“ des Theaterkollektivs Rom*nja Power (Berlin) – zusammen mit dem Wiener Theaterverein Romanosvato und dem Rroma Aether Klub Theater Berlin, das nun in Wien im Rahmen des dritten „E Bistarde/ vergiss mein nicht“-Roma-Kulturfestivals zu erleben war.
Das Ensemble nimmt das Publikum mit auf eine heftige Achterbahn der Gefühle. Zum einen ist der Weg ins utopische, herr-schaftsfreie Mahagony verheißungsvoll. Zum anderen wird eine wahre, erlebte schmerzhafte bis tödliche Geschichte aufgearbeitet. Die Szenen fließen – gespielt, getanzt mit Schrift- und Foto-Einblendungen – nicht-linear mitunter ineinander. Zu Tränen rührende Tragik wechselt mit humorvollen, parodistischen TV-Talk-Show-Elementen ebenso ab, wie widerständischer Kampf und selbstbewusst-befreites Auftreten.
Die wahre Geschichte von Rita, Rolanda und ihrer Mutter Theresia Winterstein, raubt den Atem, macht (fast) sprachlos. Theresia (1921 in Mannheim geboren), Tänzerin und Sängerin hatte als Sintiza die „Wahl“, in ein Konzentrationslager verfrachtet zu werden oder sich sterilisieren zu lassen. Sie war schon im dritten Monat schwanger. Im März 1943 wurden ihr die neugeborenen Zwillingsmädchen zwangsweise abgenommen und Menschenversuchen ausgesetzt (Uniklinik Würzburg, ähnlich den berüchtigten Mengele-Zwillings-Versuchen). Rolanda starb, Rita trug unter anderem Epilepsie und weitere Folgen aus den Experimenten davon. Erst ein Jahr später (April 1944) konnte die Mutter wenigstens die überlebende Tochter abholen.
Nach der Nazizeit und dem zweiten Weltkrieg wanderten Theresia und Rita zunächst in die USA aus, kehrten jedoch nach Deutschland zurück, um für die Aufarbeitung der – nicht nur an ihnen – erlittenen Verbrechen zu arbeiten und um Entschädigung zu kämpfen.
In diesem Geschichtenstrang des Stücks spielt Joschla Weiss die erwachse Rita Prigmore, Estera Sara Stan schlüpft in die Rolle Ritas als Kind. Cat Jugravu gibt die Tänzerin und Mutter, Nebojša Marković wird zu Rolanda – überlebend in den Erzählungen und Erinnerungen und taucht mit einem Kinderwagen auf, aus dem er eine Babypuppe hervorholt – gespenstisch der Moment, wenn er sich umdreht und das Totenkopfgesicht der Puppe zum Vorschein kommt. Als Symbol für die vielen ermordeten auch Kinder, errichten die Schauspieler:innen ein Geviert aus Schuhen, die sie aus zwei großen Kartons holen. Das Viereck wird zum Grab Rolandas. Der Moment zum Heulen.
Diese tragische, wahre Geschichte des Rassenwahns der Nazis, die an „Herrenmenschen“ bastelten, wird aber nicht linear niederschmetternd erzählt. Szenen von Rita, Rolanda und Theresia – immer wieder welche in denen getanzt wird, was ja ihre Profession war – wechseln sich ab mit jenen des Kampfes um Mahagony wie sie die Stadt befreiter Menschen nennen. Der Kampf um diese Befreiung umfasst eben auch die Erzählung der wahren tragischen Geschichte(n) nach dem Motto: Wir schreiben unsere Historie nun endlich selbst und lassen nicht die anderen, die uns jahrhundertelang diskriminiert, unterdrückt, verfolgt, ermordet haben bestimmen, was und wie über uns gesagt, geschrieben, verbreitet wird.
In dieser „neuen“ Stadt erleben wir mehrmals die „befreite“ TV-Talk-Show mit einer Moderatorin (Rea Andrea Kurmann), die doch fast wie eine Persiflage auf herkömmliche TV-Shows wirkt. Und eine utopische Stadt, zu der es aber nur Zutritt gibt, wenn die mit weißen Gesichtsmasken sich vor den Stadttoren Bewerbenden, zwei Zeug:innen mitbringen, die beweisen, dass die/der Neuankömmling auch wirklich reinrassig zu Rom:nja, Sinti:zze, Lovara usw. gehört. Eine ironische Kritik an – gescheiterten – Utopien?
Der Name eines Baumes für die Stadt befreiter Menschen wird mehrfach angesprochen, in einer Szene dargestellt: Bäume haben Wurzeln, die unterirdisch mit den Artgenoss:innen vernetzt sind, sie können Ketten sprengen, sind eins mit der umgebenden Natur und – wie viele indigene Völker hätten viele Rom*nja, Sinti*zze… noch diesen Bezug, dieses Bewusstsein, Teil des Universums zu sein.
Fast ständig präsent ist Roxie Thiele-Dogan als Kali, Göttin der Zerstörung des Bösen – oft vom Rande aus auf einer Couch das Geschehen beobachtend, dann wieder mittendrin, als Teil der Tanzperformance in der Gruppe, immer wieder auch mit dominierenden Solo-Auftritten.
Und: In gewisser Weise haben die Schauspieler:innen/Tänzer:innen – ebenso wie andere Gruppen und Künstler:innen des Festivals – das noch bis 9. November im Dschungel Wien läuft – einen Teil ihrer Utopie schon verwirklicht: Rom:nja, Sinti:zze, Lovara, Jenische… erzählen ihre eigenen Geschichten, spielen die von inhen selbst gewählten(Haupt-)Rollen und nicht höchstens ihnen zugewiesene oft Klischee-Figuren.
„Schaut euch die Menschen an, ohne Vorurteile, seht ihnen in die Augen und erkennt in jedem einzelnen, dass er ein Mensch ist, egal welche Hautfarbe er hat, ob er behindert ist, ob er fremd ist. Nur das Herz zählt, nur das Herz eines Menschen ist wichtig.“
Zitat aus einer Rede von Rita Prigmore auf der Homepage von Rom*nja Power Theater.
Stadt der befreiten Menschen
Ab 16 Jahren; 70 Minuten; Deutsch, Romanes
Text und Regie: Simonida Selimović
Mitarbeit Text: Hanna Altaher
Performer:innen
erwachsene Rita: Joschla Weiss
Rolanda: Nebojša Marković
Göttin Kali: Roxie Thiele-Dogan
Theresia Winterstein, Mutter von Rita und Roland: Cat Jugravu
Moderatorin: Rea Andrea Kurmann
Rita als Kind: Estera Sara Stan
Choreografie: Safet Mistele/Aurora Magri
Bühnenbild + Kostüme: Olga von Wahl
Ton + Visuals: Amin Banitaba, Slaviša Marković
Licht: David Scholz
Dramaturgie: Rudi de Melo
Produktionsleitung: Joschla Weiss
Eine Produktion des Rom*nja Power Theaterkollektivs (Deutschland), einer Abteilung des Kelipen e.V., in Kooperation mit dem Romanosvato Theaterverein Wien und dem Rroma Aether Klub Theater Berlin.