Immer und immer wieder tritt die Titelfigur aus dem schmal scheinenden Gang des Waschraums ganz nach vorne, ins Zentrum der Bühne. Dahinter links und rechts Duschköpfe an den Wänden, in der Mitte ein metallenes, mobiles Baustellengerüst, das auch als Aufstiegshilfe in Theatern für die Montage von Scheinwerfern dienen kann und hier eine Art Thron symbolisiert (Bühne: Andreas Lungenschmid).
Stets die selben Sätze deklamierend, verklickert Petra Staduan, die Schleife in der „Elektra“ gefangen ist: Sie will, nein muss den Mord an ihrem Vater Agamemnon rächen. Sonst, so ist es schon vom Text und erst recht im Schauspiel Staduans zum Greifen nah, findet diese junge Frau kein Seelenheil. Aber kann sie’s? Schafft sie den Rachemord? Wollen und nicht können?
Eine der verzwickten, Dilemma-Situationen (griechischer) Tragödien. Neben Schlachtfeldern – und heutzutage Straßen – ist Familie der gefährlichste, nicht selten todbringendste Ort.
Der Vater wurde im Komplott von seiner Ehefrau Klytämnestra (Nina C. Gabriel) und deren Liebhaber Ägisth (Lukas Haas) getötet. Wie ein Henker mit verhülltem Kopf und Beil wanderte der noch immer durch die Gänge.
Allerdings war dies nicht die erste Tragödie in dieser Familie. Agamemnon hatte zuvor seine älteste Tochter Iphigenie geopfert, damit Gött:innen die Windstille stoppten und ihm mit seinen Kriegern die Weiterfahrt nach Troja ermöglichten. (In anderen Versionen des Mythos opferte er eine Hirschkuh und ließ Iphigenie in Sicherheit bringen.)
So sehr sich die Mutter bemüht, Zugang zur titelgebenden Tochter zu gewinnen, so ist deren Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Elektra muss den Vatermord rächen, auch wenn ebenfalls durchgängig zu spüren ist, dass dies zwar ihr Ruhebedürfnis stillen, sie dennoch nicht glücklich machen würde.
Vierte im Bunde der Schauspieler:innen in diesem dichten, beklemmenden Spiel in einer der Röhren der Kasematten, einer ehemaligen Wehranlage, in Wiener Neustadt im Rahmen des aktuellen Wortwiege-Festivals, ist die auch als Singer-Songwriterin bekannte Pippa Galli in der Rolle der Chrysothemis, Elektras Schwester. Psychodruck, sich einem Racheplan anzuschließen, begegnet sie immer wieder mit dem herzzerreißenden Satz: „Ehe ich sterbe, will ich auch leben!“ Etwas das Elektra kaum zu fühlen vermag.
Und dann taucht der vermeintlich tote, aber nur in Sicherheit gebrachte Bruder Orest auf, auserkoren, die Rache auszuführen. Spannenderweise wird der vom selben Schauspieler dargestellt wie der Vater-mitmörder!
Sarantos Georgios Zervoulakos inszenierte die vielgespielte Tragödie – in der Antike in mehreren Versionen von Aischylos über Euripides bis Sophokles – auf der Basis eines viel jüngeren Textes, dem von Hugo von Hofmannsthal (1903), den dieser bald danach zu einem Libretto für die Oper von Richard Strauss bearbeitete. Die Wortwiege (Dramaturgie: Marie-Therese Handle-Pfeiffer) bearbeitete diesen wiederum für die bis 29. März laufenden Aufführungen. Hofmannsthals Text ist – wie Interviewer (Wolfgang Müller-Funk) und Regisseur in der Programmzeitung des aktuellen Festivals zu entnehmen ist – vor allem durch Sigmund Freund und die Psychoanalyse beeinflusst. Die inneren Konflikte der Figuren rücken so ins Zentrum.
Und die aktuelle Inszenierung lässt aber – unausgesprochen – die gesellschafts- und geopolitische Dimension von Rache(gelüsten) mitschwingen. Optisch kommt sie im Bild des Rächers Orest zum Ausdruck, wenn er sich eine gehörnte Tiermaske aufsetzt (Kostüme: Ece Anisoğlou; Maske: Ece Anisoğlou, Henriette Zwölfer). Die löst sofort Assoziationen an den Verschwörungstheoretiker der QAnon-Bewegung aus, der führend am Sturm auf das Kapitol im US-amerikanischen Washington am 6. Jänner 2021 beteiligt war. Die Putschisten wollten Donald Trumps Niederlage bei der vorvorigen Präsidentschaftswahl nicht anerkennen.
„Gerade in der Gegenwart, in der sehr stark ausformulierte Opfernarrative kursieren, interessiert mich auch zu erzählen, wie man sich aus diesem Zustand heraus bewegen könnte“, sagt etwa Regisseur Sarantos Georgios Zervoulakos in besagtem Interview (auch auf der Homepage der Wortwiege zu finden).
Abseits von Kriegen ist Familie der gefährlichste Ort der Welt. Diese für viele (tödliche) Alltagserfahrung spiegelt sich auf Bühnen seit Jahrtausenden wider. Klassischer Fall sind antike griechische Dramen. Mit einem solchen Familien-Mord-Drama tourt das Wiener Volkstheater bis Ende Mai durch die Bezirke, meist in Volkshochschul-Sälen: „Elektra“, der Zusatz „The Show must go on“ verrät schon, dass nicht die antike Tragödie einfach 1:1 nachgespielt wird; abgesehen davon, dass es da schon verschiedene Versionen – Sophokles, Aischylos, Euripides gab, ja sogar bei Homer kam die Hauptfigur damals noch unter dem Namen Laodike vor.
Wie auch immer, zunächst die Grundgeschichte: Elektra, ihre Schwester Chrysothemis und ihr Bruder Orest beschließen, ihre Mutter umzubringen – aus Rache, weil die mit ihrem Liebhaber Ägisth den Vater der Geschwister, Agamemnon umgebracht hat. Und das wiederum dafür, dass dieser eine weitre Schwester der Kinder, Iphigenie den Göttern „geopfert“ hat, um Glück im Krieg zu haben. Ob er sie wirklich getötet hat oder den Göttern eine Hirschkuh unterjubelt hat, hängt von den antiken Versionen ab.
Wie auch immer, vor diesem Hintergrund startet das Geschehen auf der Wanderbühne – keine leichte Sache dank der unterschiedlich großen Bühnen und verschieden ausgestatteten Säle (Ausstattung: Jenny Theisen, Lichtkonzept und Musik: Max Windisch-Spoerk) mit dem Blick auf acht umgestürzte, fast wie riesige Mikado-Stäbe liegende Kunststoff-Nachgebilde griechischer Säulen. Also Zerstörung und Chaos gleich zu Beginn bevor noch die/der erste aufgetreten ist.
In knallgelben, ein wenig an Clown-Kostüme erinnernden Gewändern und lila Perücken, spielen Isabela Knöll (Elektra), Alina Schaller (Chrysothemis) und Til Schindler (Orest) aber nicht nur die mörderische Story selbst. Immer wieder treten sie aus ihren Rollen heraus, sprechen auch das Publikum an, zweifeln an dem, was sie spielen sollen. Und in den Rollen selbst, agieren sie als drei unterschiedliche Charaktere: Der Bruder versucht sich ganz rauszuhalten, haut für längere Zeit ab. Die titelgebende Figur drängt auf Durchziehen des Racheplans und ihre Schwester zweifelt, ob das letztlich was bringt, und nicht die Spirale der Gewalt nur fortgesetzt würde.
Was wohl – aus der Situation – zu vermuten, Jahrtausende zurückblickend sich bewahrheitet hat. Und dennoch lässt das Schauspiel-Trio das Publikum in das fast ausweglos erscheinende Dilemma eintauchen. Aber auch sich immer wieder erholen und gar nicht zu wenig lachen – über Situationskomik ebenso wie Wortwitz (Fassung und Regie: Felix Krakau nach wie es in der Ankündigung heißt ein bisschen Euripides, Sophokles und Hofmannsthal.
Mitunter brechen sie humorvolle Szenen in null komma nix durch heftige Momente. Etwa, wenn die Schauspieler:innen von der Bühne in den Saal springen, Zuschauer:innen durch direktes Ansprechen fast schocken, zum Opfer auffordern – gut, klar, ist gespielt. Aber die Passagen, wo sie ihren Geschwisterstreit und vertrackte Lage ihrer problematischen Familie wegrücken von der antiken Ausgangs-Tragödie, hin auf allgemeinere leider zeitlose familiäre Gewaltspiralen, lässt schon mitunter heftig schlucken. Da kommt wohl das Heimito von Doderer zugeschriebene Zitat in den Sinn: „Wer sich in Familie begibt, kommt darin um“.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Facebook. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenSie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Instagram. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenSie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von X. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr Informationen