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Szenenfoto aus "The Girl Who Wanted It All"

Das Mädchen, das alles wollte, aber…

Ein rundes Konglomerat aus Stacheldraht, ziemlich viel Kunststoff-Zeugs davor und im Hintergrund laufen Videos, teilweise in Schwarz-Weiß. Aus dem Durcheinander in der Bühnenmitte – so viel darf schon gespoilert werden – schält sich eine junge, langhaarige Frau – zunächst mit einer Ganzgesichtsmaske mit aufgemaltem, kräftigem Rufzeichen. Der Strich von der Stirn einschließlich der Nase, der Punkt als Mund.

Ist sie diese Danica Brdar, von der im Ankündigungstext die Rede ist und über die nun eine Stimme aus dem Off (Barbara Angermaier) erzählt? Oder „nur“ eine Projektion für dieses 1993 im kroatischen Karlovac (an die 50.000 Einwohner:innen in ähnlich viele wie St. Pölten, die NÖ-Landeshauptstadt) geborene Mädchen, das stellvertretend steht für alle, die in dieser (Nach-)Kriegs-Zeit im ehemaligen Jugoslawien steht?

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „The Girl Who Wanted It All“

Vater im Krieg, Tochter will alles

Mit einem „Dad, who was in the war“ (einem Vater, der im Krieg war) und einer heranwachsenden jungen Frau, die mehr, die alles wollte – „The Girl Who Wanted It All“ heißt die beeindruckende, vielseitige, berührende und doch nie pathetische oder tränendrüsen-drückende Performance von Kasija Vrbanac Strelkin. Sie spielt, tanzt, turnt auf der Bühne, spielt zudem Gitarre und schmeißt mit fast einem Dutzend Barbie-Puppen, die für Figuren aus der Erzählung stehen, mitunter um sich.

Immer wieder wechselt sie sich in der Erzählung mit der Off-Stimme ab, wenn sie in die jeweilige Szene eintaucht, agiert. Die Off-Stimme ist nicht nur verbindende Erzähl-, sondern auch Stimme der Gedanken der Protagonistin. Und sie nennt die beiden erwähnten Sätze als adjektive Zuschreibungen bei praktisch jeder Erwähnung sowohl des Mädchens als auch des Vaters – vielleicht ein bisschen zu oft.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „The Girl Who Wanted It All“

Viele wahre, künstlerisch verfremdete Geschichten

Ivan Strelkin hat aus echten, wahren Geschichten und Personen, die die Performerin erlebt hat oder kennt eine dichterisch freie Story geschrieben und inszeniert.

Von Nachwirkungen des Krieges, Träumen, Wünschen, Hoffnungen und Sehnsüchten dieser Danica, Enttäuschungen, die sie in der Begegnung mit männlichen Freunden erlebt, von anderen, die frühzeitig die Erde verlassen haben und von einigen Hunden als viel treueren Weggefährten.

Mit 18 Jahren – so der Ankündigungstext – geht Danica nach Wien zum Studium und kehrt erst zehn Jahre später zum ersten Besuch in die alte Heimat zurück. Darum kreisen viele der mit sparsamen Worten und umso intensiverer, oft sehr körperlicher Darstellung gespielten Szenen. Wobei dieser Teil des Plots später wieder relativiert wird – war sie überhaupt je weg?

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „The Girl Who Wanted It All“

Nah und doch fern

Zwischen da und dort pendelt auch unausgesprochen die gute, intensive Stunde – einerseits kommen die kleinen Episoden mit so großen Gefühlen einem bekannt vor und gleichzeitig schwingt auch eine Distanz mit – wie ein Blick auf doch nicht ganz Vertrautes, Nahes und doch Fremdes…

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Henna Islamović bei ihrer Rede

Vielfalt ist unsere Stärke

Ganz ehrlich!?  Haben Sie sich heute Morgen im Spiegel angeschaut? So richtig hingeschaut? Ihre Haare, Ihre Augen, Ihre Haut – vielleicht sogar ein wenig darüber nachgedacht, wer Sie sind? Wer Sie wirklich sind? Vermutlich nicht, denn warum auch? Es ist doch selbstverständlich, dass Sie so sind, wie Sie sind.

Aber jetzt stellen Sie sich mal Folgendes vor: Was, wenn wir alle genau gleich wären? Wenn es auf dieser Welt nur 1:1-Kopien von euch selber gäbe? Ihre Haare, Ihre Augen, sogar Ihre Gedanken – alles ein Spiegelbild von jemandem anderen.

Henna Islamović bei ihrer Rede
Henna Islamović bei ihrer Rede

Stellen Sie sich vor, alle würden das Gleiche mögen, das Gleiche denken und das Gleiche essen – jeden einzelnen Tag. Das würde bedeuten, es gäbe weder Baklava noch Pizza, und vor allem keine Ćevape. Ich mein, ist doch absurd, oder? Klingt das nach einer besseren Welt? Oder eher nach einer Welt, die schrecklich leer und langweilig ist?

Liebe Zuhörer, mein Name ist Henna Islamović, ich bin 16 Jahre alt und besuche derzeit die 6te Klasse des Bundesrealgymnasiums in Purkersdorf. Heute spreche ich in der Hoffnung, Menschen zu erreichen und ihre Herzen zu berühren, um ihnen zu zeigen, dass Vielfalt unsere größte Stärke ist – aber nur wenn wir die Mut haben, sie anzunehmen.

Henna Islamović bei ihrer Rede
Henna Islamović bei ihrer Rede

Unsere Welt lebt von ihrer Vielfalt, sie atmet Vielfalt und doch behandeln wir sie oft, als wäre sie ein Problem. Fremdes wird skeptisch angesehen, Anderssein wird ausgegrenzt. Aber ehrlich gesagt: Was bleibt uns übrig, wenn alle gleich sind?

Jeden Tag, wirklich jeden einzelnen Tag, enttäuscht mich das. Ganz ehrlich – warum, warum halten wir nicht zusammen? Wie oft müssen wir noch fallen, bis wir endlich begreifen, dass wir stärker sind, wenn wir eins sind?

Diese falsche Denkweise zerstört. Sie grenzt aus. Sie schwächt uns – als Gesellschaft, als Menschen. Dadurch entsteht Diskriminierung, Ausgrenzung und eine verdorbene Gesellschaft, die es wagt, Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Aussehens oder ihrer Religion zu verurteilen.

Henna Islamović bei ihrer Rede
Henna Islamović bei ihrer Rede

Warum sehen wir Unterschiede nicht als Stärke, Chance oder Reichtum – sondern als Bedrohung? Statt sie zu feiern, fürchten wir sie. Sind wir wirklich so verschlossen, dass wir nicht erkennen, dass uns gerade diese Unterschiede stärker, gerechter und besser als Gesellschaft machen?

Ich möchte euch mal eine ganz persönliche Geschichte aus meinem Leben erzählen. Meine Eltern kommen aus Jugoslawien, genauer gesagt aus Bosnien. Sie sind hierher geflüchtet, genauso wie die Mutter von Jelena und der Vater von Marina.

Deutsche Übersetzung für bosnische Tetteile in der Rede von Henna Islamović
Deutsche Übersetzung für bosnische Tetteile in der Rede von Henna Islamović

In der Zeit Jugoslawiens, unter Titos Führung, lebten wir alle zusammen wie eine große Familie, ohne den Hass und die Probleme, die uns heute trennen. Es war eine Zeit, in der Unterschiede nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung wahrgenommen wurden. Und heute, wenn wir zurückblicken, erscheint es fast absurd: Wie kann es sein, dass wir, sobald sich die Politik ändert, all diese Herausforderungen nicht mehr überwinden können?

Damals saßen wir alle an einem Tisch – egal, welcher Name und welches Religionsbekenntnis auf unseren Papieren stand. Doch was wäre, wenn wir noch immer, zusammen – als Familie an diesem Tisch sitzen würden? Nicht getrennt durch Vorurteile und Hass, sondern durch unsere Menschlichkeit und Liebe vereint?

Henna Islamović bei ihrer Rede
Henna Islamović bei ihrer Rede

Jelena sitzt heute in Graz, Marina in Linz, und ich, Henna, stehe hier vor euch. Wenn wir drei auf dieser Bühne stünden, könntet ihr uns nicht unterscheiden. Serbin, Kroatin, Bošnjakin. – Wir sind eins.

Liebe Zuhörer, am Anfang habe ich euch gefragt, ob ihr euch heute Morgen im Spiegel angeschaut habt. Jetzt möchte ich euch bitten, nicht nur in diesen Spiegel zu blicken. Blickt nicht nur auf euch selbst, sucht nicht nur nach euch selbst in anderen, sondern blickt auf die Welt um euch herum. Lasst uns die Vielfalt, die uns umgibt, nicht als Belastung oder Bedrohung sehen, sondern als das, was sie wirklich ist: eine Bereicherung!

Henna Islamović bei ihrer Rede
Henna Islamović bei ihrer Rede

Lassen Sie mich Ihr Spiegel sein! Schauen Sie mich an! Ich bin ich und wir sind wir.
Es spielt keine Rolle, was ich bin, wer ich bin oder woher ich komme. Was zählt, ist unsere Geschichte, die uns alle einzigartig macht.
Lasst uns die Veränderung sein, die diese Welt so dringend braucht!
Lassen wir nicht zu, dass unsere Unterschiede uns trennen!
Lassen wir sie uns verbinden, nicht spalten!
Lasst uns die Vielfalt leben und lieben! Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit!!

Szenenfoto aus "Drei Winter" im Burgtheater

Beispielhafte, berührende (Familien-)Geschichtsstunden

(Fast) dreieinhalb dichte Stunden, gefühlsmäßig zwischen Atem stocken lassend und Schmunzeln bis zu herzhaftem Lachen – meist über machohaftes Gehabe – verweben auf der großen Burgtheaterbühne persönliche und gesellschaftlich-historische Geschichten Kroatiens – und darüber hinaus. Tena Štivičić hat „Drei Winter“ ursprünglich ausgehend von eigenen Familiengeschichten, später um viele andere Erfahrungen erweitert, an drei Wendepunkten ihres ersten Heimatlandes in Szenen gefasst: 1945 nach dem 2. Weltkrieg mit dem Aufbau des neuen, durch die Partisan:innen selbstbefreiten (sozialistischen) Jugoslawiens; 1990 als sich  das Auseinanderbrechen des multi-ethnischen Landes abzuzeichnen begann, manche sogar die drohenden künftigen kriegerischen Auseinandersetzungen bereits spürten/ ahnten sowie 2011 als die Beitrittsverhandlungen zur EU abgeschlossen worden sind. Treppenwitz: heute lebt die in Zagreb aufgewachsene Autorin, die 13 Jahre war, als der Krieg 1991 begann, in Großbritannien, das seit dem Brexit nicht mehr zur EU gehört, allerdings in Schottland, das nach Unabhängigkeit strebt.

Bogen bis heute

Das Stück beginnt im fast gespenstisch verdunkelten Saal nach Heben des Vorhangs mit Videos – Panzern, Schüssen. Und dem Insert Winter 2023 – bewegte Bilder aus dem Angriffskrieg Russlands in der Ukraine – womit der Regisseur, Burgtheaterdirektor Martin Kušej, gleich den Bogen des Stücks erweitert.

Eine Wohnung

Die folgende erste Szene spielt 1945: Die Partisanin Ruža Kralj (Nina Siewert, die in den 2011-er-Szenen auch ihre eigene Enkelin Alisa spielt) kommt ins Büro des Genossen Marinko (Daniel Jesch), um sich für eine Wohnung zu bewerben. Und sucht aus dem Berg von Schlüsseln jenen mit einer ihr bekannten, ja vertrauten Adresse aus. Es ist das Haus, aus dem ihre Mutter, ein Dienstmädchen der adeligen Besitzer:innen, mit dem eigenen Kind (also ihr selbst als Baby) auf die Straße gesetzt worden war. Mit ihrem kriegsverletzten, humpelnden Ehemann Aleksandar (Tilman Tuppy), ihrer Mutter Monika Vinter (Sylvie Rohrer) und dem kleinen Baby, das noch keinen Namen hat, ziehen sie ein. Und kommen drauf, dass in dem vermeintlich leeren Haus schon wer wohnt: Karolina Amruš, die Tochter der einstigen Eigentümer, deren Vater, ein Nazi-Kollaborateur war, der sich nach Argentinien abgesetzt hat. Barbara Petritsch wandelt fast wie ein Geist durch das Haus.

Ein Ort – viele Länder

Das Haus – und mit ihm die krass wechselnden Böden (je nach Epoche): Ein Zimmer voll mit Scherben bedeckt, ein anderes als recht dürres Feld, ein drittes mit einem flauschigem Feder-Teppich und ein anderes voller Papier-Schnipsel als wäre Vieles geschreddert worden (Bühne: Annette Murschetz) – wird über die gesamte Stückdauer fast zu so etwas wie einer Figur; einer Konstante in der wechselvollen Geschichte. Und zum fast skurrilen Sinnbild: Das Haus und die Stadt, natürlich immer geografisch am selben Ort, liegen über die Generationen in verschiedenen Ländern: Im Rückblick – Videos (Tobias Jonas) auch aus dem ersten Weltkrieg – noch Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie; danach Königreich Jugoslawien, ab 1945 Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien, ab 1991 Kroatien und schließlich mit dem Vorabend zum Mitglied der Europäischen Union (ab 2013).

Wende

1990 – der gemeinsam Vielvölkerstaat Jugoslawien fällt auseinander – im Stück werden Ereignisse des 14. Kongresses des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens eingespielt, wo die slowenische Delegation die Tagung verlässt und die kroatische androht, ebenfalls zu gehen, sollte der Kongress fortgesetzt werden.

Während dies „nebenbei“ läuft, erleben wir die Familienzusammenkunft nach dem Tod Ružas. Das einstige Baby, das den Namen Mascha (Regina Fritsch) bekam, lebt mit ihrem Ehemann Vlado (Norman Hacker) – bzw. beide eher nebeneinander, dem Vater (Branko Samarovski) sowie ihren beiden pubertierenden Töchtern Alisa (Laura Diego Skladana, die in anderen Vorstellungen von Alina Foltyn bzw. Anna Sebök gespielt wird) und Lucija (Anouk Aimée Auer (alternierend: Chiara Bauer-Mitterlehner, Sofi Gavril) zusammen.

Ihre Schwester Dunja (Zeynep Buyraç) lebt und arbeitet in Düsseldorf – und unterstützt immer wieder die verarmte Familie in Zagreb. Angesichts der vielleicht drohenden Kriegsgefahr bietet sie sofort an, die Kinder zu sich in Sicherheit zu holen. Was ihr herrschsüchtiger Ehemann Karlo (Daniel Jesch) so gar nicht will. Der ist obendrein eifersüchtig auf einen langjährigen Freund der Familie, Igor Maljević (Maximilian Pulst, der auch den Jugendfreund Alisas und am Ende ausquartierten Mitbewohner Marko spielt), der zu den Begräbnisfeierlichkeiten ebenfalls angereist ist – aus dem bosnischen Sarajevo. Dieser Karlo, der den Kapitalismus anbetet, wie ihm seine Frau vorhält und sich mit einem ärztlichen Attest vor dem Militärdienst geschraubt hat, verkündet nun, für Kroatien militärisch kämpfen zu wollen, sollte es so weit kommen.

Hochzeit

Den dritten Zeitsprung – es wird nicht chronologisch gespielt, sondern immer wieder hin- und her-geswitcht – mit kurzen Inserts 1945/1990/2011 – verankert die Autorin erneut in einem Familientreffen. Anlass ist nun die bevorstehende Hochzeit Lucijas (Andrea Wenzl) mit Damjan, der nie in Erscheinung tritt. Gegen ihn besteht einige Skepsis, er ist ein Unternehmer, ein Neu-Reicher, der angeblich aus dubiosen Quellen sein Vermögen anhäufte und nun das Haus gekauft hat – samt Rausdrängen der anderen Altmieter:innen wie seine künftige Schwägerin, Lucijas Schwester Alisa (Nina Siewert), herausgefunden hat. Die lebt nun in London, ist nur zum Begräbnis der Großmutter angereist und hat sich gedanklich und emotional von der Familie ziemlich abgekoppelt.

Damjans Verhalten steht sinnbildlich für die Privatisierungen, den sich abzeichnenden Turbokapitalismus, der – so fürchten einige in der Familie – sich mit dem Beitritt zur EU verschärfen würde.

Wertewandel

Mit der Szene rund um den Hauskauf und den Rauswurf anderer Mieter:innen manifestiert sich der mit dem „Länderwechsel“ auch einhergehende Wandel von Wertesystemen. Wurde 1945 das Haus der Adeligen an arme Arbeiter:innen vergeben, so krallt sich nun ein Neureicher das Anwesen – und rettet es vor noch gierigeren Spekulant:innen, wie Lucija zu versichern meint.

Und hebt das Geschehen endgültig von der konkret erzählten wechselvollen Familien- und Hausgeschichte ins Allgemeine, in eine spannend geschriebene und gespielte Gesellschafts- und Wirtschaftsanalyse. Wobei die Autorin ihre Markierungspunkte sozusagen immer knapp vor den realen Ereignissen ansiedelt – in Phasen der Vorahnung – wie sehr oft sensible und genau hinschauende Künstler:innen die Entwicklungen aufkommen sehen. Auch wenn ihnen oft nicht geglaubt wird – siehe russischer Überfall auf die Ukraine, der neben der oben angesprochenen anfänglichen Einblendung nochmals in einem Video auftaucht, wo fast nahtlos von 1918 über 1945 und 1991 auf 2023 geswitcht wird.

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