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Szenenfoto aus "006.Am.Psychosee"

Sarah Kane crasht Drehorte der Grapscher-Filmlegende

Ein alter Lustgreis mit Glatze und Brille – mit einer derartigen Perücke verwandeln sich fast alle Schauspieler:innen des Abends in diese Figur – wandelt der Regisseur durch die verschiedenen Räume des Wiener Off-Theaters, das sich in bei „006.Am.Psychosee“ von „das.bernhard.ensemble“ (Regie / Konzept: Ernst Kurt Weigel; Konzept/Immersiv-Expertin: Christina Berzaczy) in verschiedenste Stationen eines Filmsets verwandelt.

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Szenenfoto aus „006.Am.Psychosee“

„Leicht bekleidet“

Der Typ ist eine Legende des österreichischen Films. Neben der Verfilmung von „Der Bockerer (Theaterstück von Ulrich Becher und Peter Preses) rund um den schlawinerischen, leicht widerständigen, Fleischhauer, ist Antel aber vor allem für frühe, seichte Soft-Porno-Komödien berühmt geworden. Das Plakat für einen solchen Film, „Wenn Mädchen zum Manöver blasen“, hängt in der „Rezeption“ des Theater-/Film-Etablissements, in dem die Tour durch das Set beginnt. „Alles Sommerfilme, die Mädchen sind sehr leicht bekleidet“, versucht einer der Tour-Guides augenzwinkernd zu beschönigen.

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Szenenfoto aus „006.Am.Psychosee“

Grapsch-Hände

Der große Filmemacher, der sich in seiner Autobiographie noch mehr oder minder zum Erfinder von allem überhöhte, war aber in der Szene auch bekannt für seine übergriffige, missbräuchliche Art. Und das steht bei diesem Theater-Abend im Vordergrund. Kaum wird „der Franz“ eines weiblichen Wesens ansichtig – ob Darstellerin, Kamerafrau, Tonangel-Halterin, schon geraten seine Grapsch-Finger in Zuckungen.

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Szenenfoto aus „006.Am.Psychosee“

Alles das, was bis zur Me-Too-Bewegung nach dem Aufdecken von Harvey Weinsteins sexuellen Belästigungen und mehr sozusagen „nur“ ein offenes Geheimnis war und nun zum No-Go samt Verurteilungen von Tätern wurde, wird in den verschiedenen Räumen angespielt und von so manchen Opfern mit lapidaren „das gehört halt dazu“ mitgetragen.

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Szenenfoto aus „006.Am.Psychosee“

Safe Space

Zum einen schwingt sozusagen mit, zum Glück wurden solche Missbräuche aufgedeckt, wenngleich sie noch immer nicht völlig überwunden sind, zum anderen kann die Drastik mit der hier gespielt wird, wenngleich ins Karikaturhafte verzerrt (unterschiedlich gespielt von Sophie Resch, Christian Kohlhofer, Christina Berzaczy, Leonie Wahl und besonders provokant Rina Juniku), auch ganz arg triggern. Weswegen für den Theaterabend einerseits eine entsprechende Warnung gegeben wird. Und, das noch viel besser und vor allem neu in der Szene: Unter den vielen Räumen des Off-Theaters, das diesmal – wie schon vor zwei Jahren bei „Die.Stunde.Shining“ – in seiner Gänze bespielt wird, steht einer unter dem Titel Safe Space (sicherer Raum) zur Verfügung.

Wem das Gesehene und Erlebte zu weit geht, kann sich hier vorübergehend zurückziehen. Das machen hin und wieder auch die eine oder der andere von den Schauspieler:innen – und steigen hier aus ihrer Rolle / ihren Rollen (viele switchen) – aus. Ein Beispiel das (Theater-)Schule machen könnte, wo es angebracht scheint.

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Szenenfoto aus „006.Am.Psychosee“

Gegenspielerin

Ob immersiv wie hier oder im Mash-Up von Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ und Stanley Kubricks „The Shining“ (nach dem gleichnamigen Roman von Stephen King) oder auch in den „nur“ Bühnenstücken verknüpft „das.bernhard.ensemble“ seit Jahren einen Film (in diesem Fall „00 Sex am Wörthersee“) mit einem Theaterstück. Der zweite Teil des Titels „Psychosee“ basiert auf Sarah Kanes „4.48 Psychose“. Die britische Dramatikerin, die in ihren fünf innovativen mit vielen Konventionen brechenden Theaterstücken einen Bogen vom Bürger- über Familien-Krieg bis zum Inneren Kampf mit sich selbst bis zu ihrem Freitod spannte, wandelt als irritierender Geist (Yvonne Brandstetter, die als einzige in keine andere Rolle schlüpft) durch die Stationen des Filmsets. Mal verkörpert sie als direkter Gegenpol eine Darstellerin, die Besucher:innen ersucht, sie zu berühren, um ihre eigenen Grenzen zu spüren, begleitet von Leonie Wahl als Intimitäts-Coach – ein mit Me Too neu erschaffener Berufszweig. Mal wälzt sie sich nackt in klein geschnittenem Kraut – als Symbol für das angeblich so berühmte Szegediner Krautfleisch, das Franz Antel für Hunderte Gäste zubereitete; wohl eher zubereiten hat lassen.

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Szenenfoto aus „006.Am.Psychosee“

Videos mit viel Künstlicher Intelligenz

Die schon genannten Franz-Antel-Darsteller:innen verkörpern immer auch noch – mindestens – eine weitere Rolle – vor und hinter der Kamera. Ergänzt wird das Schauspiel-Ensemble von Bernhardt Jammernegg als Ton, Kamera-mensch sowie Handwerker, Matthias Böhm (Produzent / Kamera-Mensch / Schmäh-Schreiber) und Mastermind Ernst Kurt Weigel als einer der Tour-Guides sowie in verschiedenen Kostümen (Julia Trybula) für F.A.s Mode-Schau. Musik (Rafael Wagner) und teils schockierende Visuals mit Einsatz von viel KI (Evi Jägle) runden den immersiven, intensiven, fast an, für manche auch über die Grenzen gehenden Abend ab. Der trotz dessen auch von viel sarkastischem Humor lebt. Und in der Figur der vielen Franz Antels vielleicht ein wenig auch Anklänge an Sarah Kanes „Gier“ hat – ein Stück, in dem sie vier Personen ein Leben teilen lässt. Nicht zuletzt lässt sie die Stimme eines alten Mannes Begierden eines Menschen sagen, der andere missbraucht.

kijuku_heinz

Szenenfoto aus "Faust – Der Tragödie Allerlei"

Mephisto als des Pudels Kern

Wenn Faust nicht die geballte Hand ist, dann einer DER Klassiker. Goethe. Schwierig. Wissenschaft, Pakt mit dem Teufel, Gretchen.

Das alles und noch viel mehr, kompakt in knapp mehr als einer Stunde und noch dazu mit sehr viel Witz, nicht selten auch (Selbst-)Ironie verschafft die jüngste Produktion im Schubert Theater, dem Figurentheater für Erwachsene in Wien Alsergrund. In einer Textfassung des Meisters skurriler Puppen, Christoph Bochdansky und der ebenso grandiosen Schau- und Puppenspielerin Soffi Povo.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Faust – Der Tragödie Allerlei“

Historische Figur

„Faust – der Tragödie Allerlei“ geht sozusagen historisch auch zurück auf die Anfänge – hat Goethe die Geschichte des tatsächlich historischen Doctor Faust (1480-1540) höchstwahrscheinlich in der Marionettenversion der Puppenspielerfamilie Johann Georg Geißelbrechts (1762 – 1826) kennengelernt. Und so tritt hier neben Faust, dem Teufel, seinem Gegenspieler Gott, Margarethe und dem berühmten Pudel auch Kasperl als ironisch-kritischer Diener Fausts auf.

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Szenenfoto aus „Faust – Der Tragödie Allerlei“

Schräge Vögel

Zudem lassen die beiden aber noch zahlreiche fantastische Wesen schweben, fliegen umherhüpfen. Um die Faust’sche Studierstube zu Beginn in eine staubige Kammer zu verwandeln, „pupsen“ Staubvögel die Bühne mit Puder voll, Gut ein Dutzend Elfen bevölkert den Himmel rund um Gott, Teuferl und Engerl sozusagen auf den Schultern des Faust lassen seine Gedanken zwischen Gut und Böse – Pakt mit Mephisto oder nicht – hin- und herspringen.

In dieser Stunde bietet das Puppenspielduo viele Szenen für herzhaftes Lachen: Köstlich etwa wenn der Pudel Sätze von sich gibt, die eigentlich Faust gehören und dieser das natürlich gleich beim ersten dieser Sager anmerkt. Der Pudel aber nicht und nicht aufhört. Bis sich Mephistos Kopf ins Zentrum der fransigen Hundepuppe schiebt und Faust bemerkt: Das ist also des Pudels Kern.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Faust – Der Tragödie Allerlei“

Rollenwechsel

Die meisten Szenen zum Lachen sind aber auch gekennzeichnet von Tiefgründigkeit, nicht zuletzt über die Eitelkeit des Wissenschafters der sich auf den Pakt mit dem Teufel einlässt, um zu einer Verjüngungskur zu kommen. Für die Faust-Puppe bedeutet das, langer grauer Bart ab, die langen grauen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Dann müsse aber eher sie diese Figur übernehmen, leitet Soffi Povo den Rollenwechsel mit dem Schöpfer der Figuren, Christoph Bochdansky, ein. Gesagt, getan.

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Szenenfoto aus „Faust – Der Tragödie Allerlei“

Demaskiert

Wohltuend übrigens, dass im Zusammenhang mit dem „Gretchen“ diese Geschichte –  alter Mann lässt sich mit Mephistos Hilfe auf jung trimmen, um die 14-Jährige zu verführen mit letztlich tödlichen Folgen für sie und ihre Familie – beim Namen genannt wird: Missbrauch; samt notdürftigem Rechtfertigungsversuch „müsse das aus der Zeit verstehen“.

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Szenenfoto aus "Das rote Fahrrad"

Quoten-Queen und ihr Geheimnis

Die toughe, Quoten bringende, TV-Moderatorin eine mondäne Business-Lady. Immer unter Strom. Immer wichtig. Chefin nach herkömmlich-patriarchalem Muster: So behandelt sie die Sekretärin, mit der sie nur per Telefon kommuniziert, als wäre die ihre Sklavin.

Eeendlich Feierabend, sie will zu einem – wichtig scheinenden – privaten Date. Da erinnert Lisa sie noch an einen Termin, eine Bewerberin. Widerwillig empfängt sie die vermeintliche Job-Kandidatin, behandelt sie als wär’s eine weitere Dienerin.

Freundschafts-Bruch

Soweit die ersten Minuten des Stücks „Das rote Fahrrad“ in der Theater Arche Wien. Geschrieben von Fred Apke, einem Deutschen, der in Polen lebt, wo das Stück als Hörspiel im Radio gelaufen ist, reißt es in den folgenden 1 ¼ Stunden tiefe Wunden zwischen den beiden Frauen auf. Die Bewerberin ist keine solche, sondern eine einstige Freundin aus Kindertagen in einem Sozialbau am Rande einer Stadt. 37 Jahre liegt der Bruch von Daria und Sylwia zurück. Letztere wunderbar die meiste Zeit kalt und abweisend verkörpert von Eszter Hollósi will sich lange angeblich gar nicht erinnern. Doch Daria lässt nicht locker, Heide Maria Hager spielt diese hartnäckige Kämpferin, die immer auch den Grat zu wissen geht, um doch nicht von Sylwia aus ihrem Büro geschmissen zu werden.

Schrittweise wieder näher

Schritt für Schritt gelingt es ihr, die wahren Hintergründe für den Bruch, zur Sprache zu bringen. Vordergründig – und für Sylwia noch immer – war’s dazu gekommen, weil Daria der Freundin das rote Fahrrad, ein Geschenk vom Vater zum 13. Geburtstag, gestohlen hatte.

Worum’s wirklich geht, enthüllt Daria nach und nach, immer mehr gelingt es ihr auch die Abwehrhaltung Sylwias zu lockern, bis diese doch ihren Eispanzer schmelzen lässt.

Im Detail sei hier die Geschichte nicht verraten, vorweggenommen. Nur grob skizziert.

Missbraucht und verraten

Daria hatte jahrelange sexuelle Ausbeutung von frühen Kinderjahren an erlitten. Sylwia war ihre emotionale und psychische Rettungs-Insel. Aus der auch mehr geworden ist. Wozu die Freundin aber nicht nur nicht stehen wollte, sondern Daria schändlich verraten hatte – erst um die Schuld von sich zu weisen und den eigenen Vater zu besänftigen – wofür sie dann das Rad bekam – und später um der Karriere willen. Und dennoch – ohne Details zu spoilern – ist das Stück noch vielschichtiger, ist auch Daria nicht nur Opfer. Was sie aber erkennt.

Zusatztexte per Stimme aus dem Off

Neben den beiden Antagonistinnen, die sich doch (wieder) annähern, kommt immer wieder noch aus dem Off eine zarte und doch starke sehr betroffen machende Stimme aus dem Off – gesprochen von Amélie Persché. Sie bringt die Stimmung, ein zentrales Gefühl von Kindern und Jugendlichen, die missbraucht worden sind/werden, zu Gehör: „Ich kann so gut still sein… laut still sein … ich möchte gehört werden!“

Diese gesprochenen kurzen Texte sind Teil einer viel längeren literarischen Reflexion von  Heide Maria Hager über sexuelle Gewalt, die sich schon lange vorher geschrieben hatte. Aus kleinen Lautsprecherboxen im Foyer des Theaters werden sie abgespielt.

Regisseur Nagy Vilmos hat eben einige der markantesten Zitate über die Stimme aus dem Off in das Stück eingebaut – um sozusagen die junge Daria und ihre Gefühle noch anders in das Stück einzubauen als die reflektierte Erzählung der längst erwachsenen Frau aus dem Rückblick.

Ausstattung und Überraschungs-Schauspiel

Unbedingt noch zu erwähnen ist die Ausstattung der Bühne von Helena May Heber mit manche fast subtilen Details – etwa dem weißen, plüschigen Teppich unter dem mittigen Tisch, den Sylwia stets vermeidet zu betreten. Er steht, das heißt liegt, für die Unschuld die sie nicht antasten will. Ein wenig offensichtlicher hat sie den Schreibtisch Sylwias aus per Heißluftföhn gebogenen durchsichtigen Kunststoffteilen gestaltet. Im richtigen Moment als die TV-„Göttin“ erkennt, dass ihr Leben im Moment nicht so stabil sei, reicht eine fast unmerkliche Bewegung, um auch den Tisch ins Wackeln zu bringen.

Die Ausstatterin selbst spielt auch die eingangs erwähnte nur in dieser einen Szene im Hintergrund agierende Sekretärin. Die Mittzwanzigerin ist als doch mindestens zehn Jahre ältere Figur kaum bis nicht zu erkennen. Und das macht nicht nur die Perücke. Du nimmst ihr die schon sichtlich abgearbeitete „Sklavin“ definitiv ab. Sie rundet damit – auch wenn nur kurz – die vielschichtig bewegende Inszenierung von „Das rote Fahrrad“ ab.

Wahrer Kern

Zumindest die Grundsituation – zwei Frauen, die einander nach 37 Jahren zum ersten Mal wieder treffen/sprechen und es vordergründig um ein rotes Fahrrad geht ist nicht erfunden, erzählt der Autor des Stücks, Fred Apke, Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… nach der vielumjubelten bewegenden Premiere. Die habe er aus dem Leben in seinem unmittelbaren privaten Umfeld gegriffen. Die Details dessen, was die beiden Frauen dann besprochen – und aufgeschrieben – haben, kenne er nicht. Aber diese Ausgangssituation habe ihn zu diesem Stück inspiriert. Das sich in Polen niemand traute aufzuführen, selbst das Hörspiel ins Radio zu bringen sei keine leichte Sache gewesen. Da herrsche (noch?) zu viel Scheinheiligkeit in seiner sehr katholisch dominierten zweiten Heimat, so Fred Apke im Gespräch mit dem Journalisten. Der Schluss-Satz des Stückes – nein er bleibt hier ein Geheimnis – ist auch eher an die Situation in Polen gerichtet, wo die angesprochenen Themen noch weit eher tabuisiert sind als hier.

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Szenenfoto aus „Das rote Fahrrad“