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Szenenfoto aus "The Big Picture"

Ein „Lehr“Stück in Sachen „utopischer Realismus“

Elegant schwarz gekleidet betreten die beiden Akteurinnen die Bühne, auf der ein klassisches Redepult und an der Seite ein kleiner Tisch mit zwei Sesseln steht. Sie werden kein Stück spielen, bestätigen sie die Info aus dem Programmzettel, dass es sich bei „The Big Picture“ der Gruppe „Fetter Fisch“ (Münster, Deutschland) um eine „Lecture Peformance“ handelt; sozusagen eine Vorlesung mit eingestreuten theatralischen Mitteln – und vielen Bildern, das heißt an die Wand projizierten Fotos.

Szenenfoto aus
Cornelia Kuperschmied lässt sich von diesem Foto einer offenbar laut schreienden jungen Frau inspirieren und erschallt den Theaterraum mit einem herzhaften Schrei

Das große Bild, das Silvia Andringa, Cornelia Kupferschmid (Regie, Choreografie: Leandro Kees) erzeugen wollen ist, Mut machen gegen die leider ja nicht unberechtigten Ängste über die Zukunft des Lebens auf diesem Planeten. Doch statt über realistische Dystopien Ohnmacht zu verstärken will „The Big Picture“ Mut machen mit vielen ganz konkreten Beispielen von Widerstand in unterschiedlichster, nicht selten auch kreativer Form, und gelungenen Gegenbeispielen.

Der Junge, der einen ganzen Wald pflanzte

Ob dies etwa Jadav Molai Payeng ist, der als Jugendlicher vor rund 40 Jahren auf einer Sandbank im großen indischen Fluss Brahmaputra die ersten Bambus-Setzlinge einpflanzte woraus bis heute ein riesiger Wald geworden ist (Link zur KiJuKU-Story über Bilderbücher über ihn gleich nach diesem Absatz), oder Great Thunbergs Schulstreik aus dem die weltweite Bewegung Fridays For Future geworden ist… „Utopischen Realismus“ nennt die Gruppe die vielen Beispiele, wo anfangs oft nur wenige, nicht selten auch nur einzelnen Menschen, Aktionen setzten, die althergebrachte Normen durchbrachen, unter denen Gruppen von Menschen diskriminiert, ausgegrenzt usw. worden sind.

So findet sich unter den Foto-Beispielen auch jenes von Kathrine Switzer mit der Nummer 261 beim Boston Marathon 1967 – sie wurde vom Renndirektor aus dem Pulk der Laufenden gefischt – Frauen durften damals (noch) nicht teilnehmen. Mit ihrer Aktion löste sie aus, dass wenige Jahre später natürlich auch Frauen in Boston Marathon laufen durften. Ein weiteres Foto zeigt eine Läuferin mit der historischen Nummer im Jahr 2017 – zum 50. Geburtstag der Protestaktion.

Vor-Lesen

Die beiden Performerinnen stellen aber auch den Münchner Friseur Danny Beuerbach vor, der vor rund fünf Jahren begonnen hatte, Kindern gratis die Haare zu schneiden, wenn sie ihm in dieser Zeit aus einem Buch vorlesen. „Ich geh aber auch raus, in Schulen oder zu Leseveranstaltungen, besonders gern in Gegenden, wo vielleicht weniger gelesen wird und die Leute nicht so viel Geld haben. Dort kriegen Kinder ihren Haarschnitt gratis, sagte er in einem Telefon-Interview – damals noch für den Kinder-KURIER (Link zur Geschichte am Ende des Beitrages) anlässlich des Kinderbuchs, das seine Aktion sowie Fantasiegeschichten umfasst.

Kinder-KURIER -> über das Buch von und über den Frisör, der Haarschnitt gegen Vorlesen tauscht

Außerdem präsentierten sie José Adolfo (13) aus Areqipa in Peru. Er hatte eine „Umwelt-Kinderbank“ gegründet als er erst sieben (7!) Jahre alt/jung war. Kinder, die sechs Kilo Müll sammeln und zu einem Zentrum bringen, in dem der Abfall getrennt und recycelt wird, bekamen ein Konto dieser Bank auf das nur sie Zugriff haben. Mehr über ihn und andere Kinder/Jugendliche die einiges auslösten und bewirkten in dem Film „Morgen gehört uns“ – Besprechung hier unten.

Ins Gespräch kommen

Die Künstler:innen hatten für die Performance, die sie 2019 fertigstellten, eine Woche lang mit Jugendlichen einer 8. Realschulklasse in Münster gearbeitet, um Themen, die diesen wichtig waren zu verhandeln. Auch ungefähr mitten in jeder Performance sprechen sie das Publikum an mit der Frage, was für jede/n Einzelne/n wichtig wäre/ist. Doch schon im nächsten Moment geht die Performance weiter, bleibt nicht wirklich Raum und Zeit dafür.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „The Big Picture“

„Aber nach jeder Aufführung sprechen wir dann genau diesen Moment an und kommen miteinander ins Gespräch“, so Silvia Andringa nach dem abendlichen Gastspielt im Rahmen von Skin #4 im Dschungel Wien zu Kinder I Jugend I Kultur I und mehr… Und über das Gespräch hinaus stellen sie mit eigenem theaterpädagogischen Material Lehrer:innen Tipps für Workshops mit ihren Schüler:innen zur Verfügung und Anregung, eigene Aktionen zu starten in Bereichen, die den Jugendlichen am Herzen liegen.

Jin Jiyan Azadî, Wir wollen überleben, Just do it

An diesem Abend war dafür nicht in dieser Form, sondern in einem größeren Rahmen ein Forum. An die Vorstellung schloss sich einer der Talks – „Revolution und Zivilcourage“ des Festivals an: Neben den beiden Darstellerinnen aus „The Big Picture“ diskutierten die Künstlerin und Aktivistin Shahrzad Nazarpour („Hijab offline“, das auch beim Festival wieder zu sehen war), Evia Gabriela Jorquera Mercato (Alerta Feminista Austria, Chile despertó Viena, Feministisches* Bloco Descolonial), die bei der vorigen Ausgabe des Festivals mit der partizipativen Performance „El violador eres tu“ (Der Vergewaltiger bist du) vertreten war, sowie Jelena Saf (Aktivistin derzeit bei „Letzte Generation“).

In der Abschlussrunde bat Moderatorin Jasmin Behnava die Diskutantinnen jeweils um drei Worte. „Wir wollen überleben“ (Jelena Saf), „Just do it“ (Silvia Andringa und Cornelia Kupferschmid) sowie „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frau Leben Freiheit), die Parole die seit dem gewaltsamen Tod der jungen iranischen Kurdin Jîna Mahsa Amini nach ihrer Verhaftung im September 2022 weltweit bekannt ist, aber unter Kurd:innen aller Länder schon seit Jahren eine bekannte Losung ist.

Verschiedene, gegensätzliche Sichtweisen

Apropos Iran und große Widerstandsbewegung seit September des Vorjahres: „The Big Picture“ hat natürlich nach 2019 aktuelle Themen in die Performance eingebaut, u.a. diese – mit einem Foto von einer Demo, bei der sich Frauen die unverhüllten Haare abschneiden. Aber auch mit dem durch die Medien gegangenen Foto des iranischen Männer-Fußballteams bei der Weltmeisterschaft Ende des Vorjahres und ihrem ersten Antreten, bei dem sie bei der Nationalhymne nicht mitgesungen haben. Während sie dafür im Westen als Helden gefeiert wurden – und das so auch in der Performance anklang, war zu diesem Zeitpunkt das Nationalteam bei allen regimekritischen Iraner:innen schon längst unten durch gewesen, weil sich so manche der Herren bei der offiziellen Verabschiedung durch Irans Präsidenten Ebrahim Raisi mehr als unterwürfig gezeigt hatten.

„Wir wissen, dass viele unserer Fotos auch immer wieder unterschiedlich gesehen werden“, meinte Silvia Andringa von kijuku.at darauf angesprochen.

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https://kijuku.at/buehne/wenn-vater-und-sohn-verspielt-tanhttps://kijuku.at/buehne/was-alles-fuer-bewegungen-moeglich-sind/zen-und-einander-ganz-nahe-sind/
Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „The Big Picture“: Der Fotograf Mehmet Genc sprach in Südamerika Menschen an, sagte ihnen „Du bist schön!“ um sie dann erst zu fotografieren