„Medeas Töchter*“: Fünf starke Frauen verstehen sich als Erbinnen der antiken Figur und als Kämpferinnen für eine andere Gesellschaft.
Überzeugend genervt schleppt die erste Schauspielerin mit orangefarbener Warnweste eine Kiste nach der anderen in den Bühnenraum, schlichtet Milch- und andere Lebensmittelpackerln auf ein Podest. Erzählt davon, dass sich hin und wieder Kund:innen sogar bei ihr bedanken. Dabei mache sie doch nur ihren Job. Verkäuferin wurde in Pandemiezeiten zu einer der Systemerhalter:innen. Beklatscht, aber nicht belohnt.
Neben der Verkäuferin (Ivana Nikolić) erleben wir in „Medeas Töchter*“ auf Bühne 3 im Dschungel Wien (MuseumsQuartier) auch noch eine „Putze“, deren Arbeit auf einmal anerkannter ist, weil sie ja die Oberflächen auch von Viren befreie (Cecilia Kukua), eine Krankenschwester (Ines Miro), eine Friseurin (Lilie Lin) als „Systemerhalter:Innen sowie eine „Schauspielerin mit Migrationshintergrund, die eeeeendlich dran ist“ (Elif Bilici) und in unterschiedlichsten akrobatisch verrenkten Positionen ihre Texte klar und deutlich fast wie Pfeile ins Publikum schießt.
Sie alle schildern in collageartig aneinander gefügten Monologen in unterschiedlichen schauspielerischen und tänzerischen starken, großartigen Auftritten aber weit mehr als die genannten wichtig gewordenen und doch nicht besser honorierten Jobs. Und gleichzeitig den Kampf um diese Anerkennung und gerechte Bezahlung.
So „nebenbei“ lassen sie in ihren Texten – teils von ihnen selber, teils von Tunay Önder verfasst, die Geschichte der antiken Medea, der als Fremder Morde an ihren Kindern in die Schuhe geschoben werden. Vor allem den Aspekt der Kämpferin gegen den Fremdenhass, dem sie ausgesetzt ist. Und ihren unbeirrbaren eigenen Weg. Und deswegen verstehen sich die fünf Schauspielerinnen als Töchter Medeas. Als Kämpferinnen für eine diverse, gleichberechtigte Gesellschaft. „Wir, Medeas Töchter*, haben besondere Fähigkeiten und lassen uns nicht auf ein Geschlecht und eine Herkunft festlegen; wir sind alles das, was sich nicht in die herrschende Ordnung pressen lässt!“
„Denn was keine:r mehr wissen will und worüber keine:r spricht: Wer sind eigentlich die Nachfahren und vor allem die kulturellen Erben von Medea? Das sind wir! Wir, Medeas Töchter, brechen auch heute immer wieder auf zu neuen Ufern, geben uns mit der Stagnation und Regression an unserem Geburtsort nicht zufrieden, ziehen weiter, überqueren und unterwandern Grenzen, schaffen neue Orte, ganze Städte, teilen unser Wissen, bringen frischen Wind, neue Ideen, unbekannte Praktiken und Bräuche mit, machen das Leben lebendiger, diverser und schillernder, geben Anstoß für Reibung, Hitze und erzeugen Energie, sind der Motor der Gesellschaft und der Funken der Wahrheit!
Medea ließ sich weder unterwerfen, noch kolonisieren, weder assimilieren, noch integrieren. Sie ließ sich nicht f*cken und nicht verarschen, sie ließ sich weder den Mund verbieten noch die Gedanken.“
„Die eigenen Kinder. Wer soll das überhaupt sein? Die, die vor den Küsten des Mittelmeers aus den Booten fallen und ertrinken, zählen auf jeden Fall nicht zu den eigenen Kindern. Ganz offensichtlich nicht. Sonst müsste man sich eingestehen, dass Europa ein noch viel größeres Monster ist als es Medea jemals hätte gewesen sein können.“ (Tünay Önder)
„Meine Frage daher: Wie viel verdienen wir und wie viel verdienen wir?“ (Lilie Lin)
„Medea war eine Kämpferin. Sie war mutig, ließ Besitz, Recht, Macht und Ansehen zurück, und verließ sich einzig und allein auf ihr Wissen, ihren scharfen Verstand, ihre Intuition und soziale Kompetenz. Von Vernunft allein ließ sich Medea nicht leiten, das war ihr vielzu eindimensional, konventionell und lustbefreit. Aber alle um sie herum gaben vor, von der Vernunft gesteuert zu sein; ihre Abschiebung sei rein aus Vernunftgründen heraus so beschlossen worden. Sie wollten ihr weismachen, dass es ihnen nicht um sich, ihr eigenes persönliches Interesse gehe, sondern um die Zukunft des Staates, es gehe nun mal um die Gesellschaft. Da müsse sie sich als einzelne Person nun mal zurücknehmen. Es war letztendlich pure Gewalt, wenn auch im Gewande der Vernunft, die Medea entgegenschlug. Und jetzt spricht man nur noch von der Gewalt, die von ihr ausging.“ (Ines Miro)
Und weil die Schauspielerin, die in die Rolle der Schauspielerin schlüpft – wie auch manche ihrer Kolleginnen Migrationsgeschichte thematisiert, vielleicht noch ein Zitat aus dem im Vorjahr erschienenen Buch „Der undankbare Flüchtling“ (Dina Nayeri, Verlag Kein & Aber): „Mittlerweile haben wir es unseren unfähigsten, zynischsten Bürokraten überlassen, über komplexe Wahrheiten zu entscheiden, wir haben ihnen nicht etwa aufgetragen, Leben zu retten oder die Müden und die Verzweifelten aufzunehmen, sondern Lügner aufzuspüren, unsere riesigen Ansprüche, unseren Lebensraum zu schützen und sich dabei über jegliche Moral hinwegzusetzen – was einer Pflichtverletzung gleichkommt. Noch empörender ist der Begriff ,Wirtschaftsflüchtlinge‘, eine Lüge, die von den Privilegierten ersonnen wurde, um leidende Fremde zu beschämen, die sich nach einem menschenwürdigen Leben sehnen. Hätten die Kinder der Privilegierten derartige Wünsche, würden sie es als ,Motivation‘ und , Unternehmergeist‘ bezeichnen.“
Zu einer frühen Besprechung – eines Showings im Vorjahr – geht es – damals noch im Kinder-KURIER – hier.
Dschungel Wien & Medea Production
Systemrelevante Monologe, 50 Minuten
Ab 14 Jahren
Regie: Corinne Eckenstein
Text: Tunay Önder, Elif Bilici, Cecilia Kukua, Lilie Lin, Ines Miro, Ivana Nikolić
Systemrelevante Performerinnen*: Elif Bilici, Cecilia Kukua, Lilie Lin, Ines Miro, Ivana Nikolić
Assistenz: Katharina Fischer
Bis 30. September 2021
22. bis 24. Februar 2020
Dschungel Wien: 1070, MuseumsQuartier
Telefon: 01 522 07 20-20
Dschungel Wien -> Medeas Töchter*