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Aus "Das Kleid" von Dachtheater im MöP (Mödling)

Wahre Geschichte zum Gruseln

Sie sitzt in der letzten Reihe mit hellbraunem Mantel, Kopftuch, dunkler Sonnenbrille und Koffer. Klar, sie wird die Protagonistin auf der Bühne sein. Auf dieser steht im Zentrum ein Metallgestänge aus Rohren mit einer Anmutung eines möglichen Kleiderständers. Heißt das Stück von und mit Cordula Nossek doch „Das Kleid“.

Aber bis es so weit ist, wird es zunächst sehr dunkel – schrille alte Lokomotiv-Geräusche ertönen fast bis zur Unerträglichkeit. Wobei sich letztere nicht nur durch die Lautstärke ergibt. Für jene, die den kurzen Text zum Inhalt dieses „Theaters zum Erinnern“ gelesen haben, tun sich mit Zug-Zischen und quietschenden Gleisen natürlich gleich andere Assoziationen auf.

„Im Mittelpunkt steht Hedwig, die Ehefrau des Lagerkommandanten Rudolf Höß, die im KZ Auschwitz-Birkenau die sogenannte „Obere Nähstube“ leitete. Aus den Hinterlassenschaften von Millionen Deportierter lässt sie Haute Couture für hochrangige NS-Funktionäre und deren Ehefrauen anfertigen“, lauten die ersten Sätze der Inhaltsangabe. Also Züge in die Vernichtung – in deren Geräusche sich schon das Weinen von Kindern mischt!

Aus
Die Schauspielerin mit den „Kindern“ von Hedwig Höß – in Gestalt von Kindergewand auf Kleiderhaken

Alle (anderen) Figuren: Gewänder

Danach schreitet die eingangs beschriebene Schauspielerin auf der Bühne (Gernot Ebenlechner; Kostüm: Tehilla Gitterle) – in der Rolle der Hedwig Höß. Zunächst als Mutter einiger Kinder. Die holt sie in Gestalt von Kindergewand an Kleiderbügeln zwischen auf dem Boden liegenden Stoffen hervor, hängt sie am Rohrgestänge auf und verleiht ihnen ihre eigene jeweils gefärbte Stimme in Dialogen bzw. Greinen beim jüngsten. Wobei Dialoge? Strenge teutsche Erziehung ist’s eher.

Im weiteren Verlauf (Regie: Martin Müller – MÖP Figurentheater) verwandelt sich das gärtnerische „Paradies“ wie Höß die Villa samt Natur drumherum auf dem Areal des Vernichtungslagers Auschwitz für sich empfindet und nennt eben vor allem in die Schneiderei. Hochrangige Gästinnen empfängt sie, um ihnen Gediegenes nähen zu lassen – von weiblichen Häftlingen, die meisten Jüdinnen. Was so manche der Nazibonzen-Damen wiederum irritiert, sie wollen unter keinen Umständen von Judenhänden berührt werden! Da muss dann eine politische nicht-jüdische Gefangene ran…

Aus
Die Spielerin – und Schöpferin des Stücks – mit Elementen aus der Schneiderei

Solistin schlüpft stimmlich in viele Rollen

Die Spielerin, auch Leiterin des Dachtheaters sowie der bekannten internationalen Puppentheater Tage Mistelbach Cordula Nossek schlüpft stimmlich auch in die Rollen der „Kundinnen“ ebenso wie in einige der Schneiderinnen – mit unterschiedlichen Dialekten und Sprachfärbungen.

Baut auf wahrer Geschichte auf

Die Story von der Schneiderei im KZ baut – so absurd das vielleicht klingen mag – auf einer wahren Geschichte auf. Die gab es wirklich. Cordula Nossek – Vater Jude und einziger Überlebender seiner Familie, Mutter protestantisch und in deren familiären weiteren Umfeld gab es einen Nazi – beschäftigte sich zeitlebens mit der Geschichte, setzte sich damit auseinander, recherchierte viel. Aber lange fand sie nicht den Dreh- und Angelpunkt für eine theatrale Verarbeitung.

Aus
Sechs historisch verbürgte der Schneiderinnen: (von links nach rechts): Marta Fuchs, Hunya Volkmann, Marilou Colombain, Bracha & Katka Berkovic, Irene Reichenberg

Bücher

Eines Tages stieß sie – übrigens gelernte Schneiderin – auf „Das rote Band der Hoffnung“ von Lucy Adlington über die Auschwitz-Schneiderei. Und das Folgebuch „The Dressmakers of Auschwitz“. Auf Ersteres rund um den wahren Kern eine eher fiktive Geschichte, hatten sich bei der Autorin überlebende Schneiderinnen gemeldet – worauf sie das historisch authentischere Buch schrieb. Das war’s dann für Nossek …

… noch lange nicht. Drei Jahre Recherche, Arbeit an Text und Szenen – und nun die erste kleine Spielserie in Mödling, im MöP, dem Figuren- bzw. Puppentheater an der Hauptstraße dieser niederösterreichischen Stadt am Rande von Wien, im Rahmen des Industrievietel-Festivals..

Das 1½ Stunden Stück ist heftig, zeigt einerseits, wie sich Nutznießer:innen des diktatorischen Systems in diesem recht gemütlich und privilegiert einrichteten. Andererseits auch die Menschenverachtung. Und zum Dritten aber auch noch das was Hannah Arendt die „Banalität des Bösen“ genannt hat.

Historisch anmutendes Foto zur Ankündiung des Stückes
Historisch anmutendes Foto zur Ankündiung des Stückes „Das Kleid“

Gruselmomente

In so manchen „kleinen“ spielerischen und nicht zuletzt auch requistenmäßigen Andeutungen lässt das Stück immer wieder kalte Schauer über den Rücken laufen. In der Blumenerde der von Hedwig Höß geliebten Erdbeeren scheint auch Asche mit vermischt zu sein. Aus der Rohrleitung des Kleiderständers steigt Rauch auf…

Die Schneiderei – aus Stoffen der Kleidung der Ermordeten feinstes Gewand für führende Angehörige derer, die sich als „Herren“menschen aufspielten, zu nähen – ist eine der fast schon skurrilen Auswüchse der rassistischen Herrschaft, die andere zu Unter- oder nicht einmal Menschen erklärte. Fast schon so wie der Tiergarten, den Gefangene im Konzentrationslager Buchenwald zur Belustigung der Nazibonzen bauen mussten. Der allerdings an Sonntagen auch von den Bürger:innen der nahegelegenen Stadt Weimar besucht wurde. Die aber angeblich nichts davon bemerkt haben wollen, dass hinter dem Zaun Menschen eingesperrt, ermordet und deren Leichen verbrannt worden waren. (Verarbeitet im Theaterstück „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“ von Jens Raschke.)

Nicht vergangen

Mechanismen, die leider nicht so historisch eingrenzbar waren – das Auseinanderdividieren in sich besser Fühlende und Abqualifizieren, diskriminieren, ausgrenzen anderer, denen weniger Wert zugemessen wird, ist auch heute so unbekannt ja nicht.

Widerstand

Das Stück baut trotz aller heftiger Momente auch Elemente der Hoffnung ein – Widerstand der Schneiderinnen. Und gibt sechs Überlebenden von ihnen auch Namen und Gesichter – die einzigen Fotos zu an Kleiderhacken hängenden Gewändern: Marta Fuchs, Hunya Volkmann, Marilou Colombain, Bracha & Katka Berkovic und Irene Reichenberg. Nossek lässt sie da sagen: „Wir hätten schon lange aussagen sollen. Aber es ist niemals zu spät.“

Und im Ausfaden spielt sie den Text von Paul Celans „Todesfuge“ ein, in dem es unter anderem heißt „der Tod ist ein Meister aus Deutschland“.

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Stückbesprechung über den Zoo beim KZ Buchenwald <- damals noch im Kinder-KURIER

Flyer zum Stück
Flyer zum Stück „Das Kleid“
Szenenfoto aus "Medea's Kinderen"

Hätte man nicht Stopp rufen sollen/können oder gar müssen?

Die meisten, stärksten Reaktionen während des Stücks und auch beim echten Nachgespräch lösen die brutalen Mord-Szenen an den fünf Kindern aus. Klar, sie sind gespielt, das in Strömen fließende Dunkelrot ist Kunstblut. Und das Spiel findet im Inneren des Hauses am Sandstrand statt, übertragen durch Video auf die große Leinwand. Dennoch: (Kaum) auszuhalten. Etliche Zuschauer:innen verlassen den Saal, (viele) andere halten sich die Augen zu oder wenden den Blick ab.

Aber wäre das nicht – dieses grausame Schauspiel dauert ewig lange – die Gelegenheit gewesen: Laut aufzuschreien? Ein Stoppen zu verlangen?

Was wäre dann geschehen? Diese Frage kam im – echten – Nachgespräch (dazu die Erklärung später). „Wir wissen es nicht, ist bisher noch nie vorgekommen“, so Peter Seynaeve, Schauspieler und Kinder-Coach in „Medea’s Kinderen“ von Milo Rau bei den Wiener Festwochen – übrigens im Jugendstiltheater auf dem Gelände des ehemaligen psychiatrischen Krankenhauses Baumgartner Höhe. „Aber sicher hätten wir reagiert. Vielleicht hätten wir gefragt, ob das viele oder alle im Publikum wollen…“

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Medea’s Kinderen“

Der größte Spaß für die Kinder

Und er schildert auch: Die beteiligten Kinder – die fünf in Wien (Jade Versluys, Gabriël El Houari, Emma Van de Casteele, Sanne De Waele, Anna Matthys, Vik Neirinck) aber auch ein zweiter Cast (Bernice Van Walleghem, Aiko Benaouisse, Helena Van de Casteele, Ella Brennan, Juliette Debackere, Elias Maes; derzeit mit Lien Wildemeersch bei anderen Gastspielen unterwegs) beim Dreh für diese Gewaltszenen, die nicht jedes Mal live gespielt werden, sondern als einmal vor-aufgenommene Videos auf die große Leinwand projiziert werden, den meisten Spaß hatten. Wenngleich manche diese Szenen bei einer Vorstellung der anderen selber nicht anschauen konnten. Und dass es auch neben dem Schauspiel-Coaching mit psychologischer Begleitung durch die ganze Probenzeit hindurch gab. Ein anderes der spielenden Kinder wird zitiert, dass es viel schwieriger gewesen sei, die Kuss-Szene zu spielen.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Medea’s Kinderen“

„Nachgespräch“

Das rund 1½ -stündige Stück beginnt schon ein wenig verstörend: Vorhang zu, der schon erwähnte Peter Seynaeve stellt hölzerne Klappstühle davor auf, Nach und nach kommen die fünf Kinder – eine hat noch das Handtuch über den „nassen“ Haaren, ein anderer ist noch unter der Dusche. Es startet das „Nachgespräch“. Alle tun so, als hätten sie gerade gespielt und das Publikum hätte es gesehen. Immer wieder fragt das ein, dann das andere Kind, ob es einen Monolog, ein Lied wiederholen dürfte; beginnt zu singen, ein anderes setzt sich ans Keyboard oder spielt am Theremin… – bis sich der Vorhang öffnet und das Spiel wirklich beginnt.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Medea’s Kinderen“

Medea und ein vielfacher Kindsmord aus Belgien

Auf einem öden Sandstrand zwischen Strandkorb und zweistöckigem Häuserl taucht Jason in Fell (dem goldenen Vlies?) auf. Und natürlich Medea. Sowie ein drachenartiger Dämon. Auf der Bühne von Kindern gespielt, auf der Leinwand „wiederholt“ von erwachsenen Schauspieler:innen. Dieses Muster der Verdoppelung durch unterschiedliche Generationen wiederholt sich auch beim Spiel, das an einen realen mehrfachen Kindsmord in Belgien angelehnt ist. Samt fiktiver Vorgeschichte der Mörderin, des Ehemannes und dessen Freund „Dr. Glas“.

Gedenkstätte für die ermordeten Kinder
Gedenkstätte für die ermordeten Kinder „Am Spiegelgrund“

Mords-Ort

Wobei es da schon spooky wird, einige im Publikum reißt, die wissen, dass auf dem Areal dieses einstigen psychiatrischen Krankenhauses „Am Spiegelgrund“ in der Nazizeit unter anderem ein Dr. Gross federführend an Experimenten und Morden von Kindern beteiligt war. Ein erst vor rund 20 Jahren errichtetes Mahnmal aus Hunderten Lichtstelen vor dem Theater erinnert daran.

Erklärtafel zur Gedenkstätte für die ermordeten Kinder
Erklärtafel zur Gedenkstätte für die ermordeten Kinder „Am Spiegelgrund“

Gewalt-Kreislauf

Milo Rau, Intendant der Festwochen, hat schon öfter antike griechische Stoffe mit Verbrechen der Neuzeit – in unterschiedlichsten Gegen der Welt verknüpft (Orest mit Mosul/Irak, Antigone mit Amazonas). Der scheint’s ewige Kreislauf von Gewalt, die alle vorgeblich ablehnen und dann doch nicht stoppen, wird schmerzhaftest bewusst.

Und auch, dass für Kinder der tödlichste Ort – neben Kriegen – das eigene Heim ist. Mord in der Familie. Ausgerechnet von denen, die für den eigenen Schutz zuständig wären. So verknüpft diese Inszenierung den verfremdeten realen knapp zwei Jahrzehnte zurückliegenden mehrfachen Kindermord durch die Mutter in Belgien mit der Euripides-Version des Medea-Mythos. Da bringt sie Mermeros und Pheres, die Söhne, die sie mit dem Argonauten Jason hatte, aus Rache über den Verstoß durch ihn, um. In anderen Versionen bringen die Korinther, die die fremde Zauberin hassen, die beiden Kinder um.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Medea’s Kinderen“

Warum immer wiederholen

Und so philosophieren die Kinder, die überzeugend spielen, denen aber doch etwas befremdlich nicht selten eher altkluge Sätze in den Mund gelegt werden, auch darüber, warum sich alles ständig wiederholen muss. Und, dass es für den Planeten wohl am besten wäre, die Menschheit würde aussterben. „Aber bitte erst nach unserem Tod!“

Aus der Sicht der Kinder?

„Medea’s Kinderen“ vom NTGent – gespielt in flämischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln – thematisiert auch, dass im antiken griechischen Theater die Gewalt nicht explizit gezeigt wurde, sondern die Schreie aus dem Verborgenen kamen. Die Kinder also in „Medea“ unsichtbar geblieben sind. Hier rücken sie ins Zentrum. Sie spielen allerdings die meiste Zeit die Rolle der beteiligten Erwachsenen – sowohl im Medea-Stoff als auch im neuzeitlichen Mordfall. In die Rolle der Kinder schlüpfen sie fast nur rund um die und in den Gewalt-Szenen – letztere übrigens als Videos, wie sie nicht wenige Kinder und Jugendliche auch auf ihren SmartPhones finden.

Auch wenn hier Kinder zentral auf der Bühne spielen und sie und Altersgenoss:innen im Vorfeld nach ihren Fragen an den Medea-Stoff erhoben wurden, der Kinder-Blickwinkel bleibt noch immer nur der vor fast einem halben Jahrhundert entstandenen Version „Medeas Barn“ (Medeas Kinder) von Suzanne Osten und Per Lysander vom Unga Klara Theater in Stockholm vorbehalten.

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Sujetfoto zu
Sujetfoto zu „Medea’s Kinderen“
Szenische Lesung "Adressat unbekannt" im Festsaal des Gymansiums Hagenmüllergasse

So rasch verwandelte sich der liberale Kunstfreund zum Nazi

Drei Notenständer, ein Instrument. Während Anna Starzinger Platz – und ihr Cello – nimmt, hin und wieder musikalisch die jeweiligen Emotionen von „Adressat unbekannt“ untermalt, verstärkt, hervorhebt oder überhaupt erst richtig zum Ausdruck bringt, lesen ihre beiden Bühnenkollegen Samuel Pock und Benjamin Spindelberger abwechselnd aus Briefen.

Ersterer schlüpft in die Rolle von Max Eisenstein, Betreiber einer Kunstgalerie im US-amerikanischen San Francisco. Zweiterer liest die Briefe des ehemaligen Galerie-Mitbetreibers und Freundes Martin Schulse. Dieser ist 1932 wieder nach Deutschland zurückgekehrt, wo Ersterer auch studiert hat.

Der Briefwechsel ist ein fiktiver, geschrieben von der US-Autorin Kressmann Tayler, die bei der Veröffentlichung 1938 ihren Vornamen bewusst nicht nannte, sie wollte ihr Geschlecht nicht preisgeben. Ihr knapp 80 Seiten-Buch umspannt den ausgedachten Zeitraum vom 12. November 1932 bis 3. März 1934. Und mit Hilfe der beiden Männer, die sich zunächst über ihre Freundschaft sowie die Geschäfte unterhalten, vermittelt die Autorin die politische Entwicklung in Deutschland. Und obendrein, wie sich Menschen verändern konnten. Wobei sie das in einer Art tut, die fast automatisch die Frage aufwirft: Ist das wirklich nur eine (fiktive) historische Geschichte?

Hilfe verweigert

Der weltoffene, kunstaffine Martin findet Gefallen an Herrn Hitler – und nicht nur das, er übernimmt sogar Funktionen in dessen Nazi-Partei, er und seine Frau nennen ihren jüngst geborenen Sohn Adolf!

Und als Max ihn bittet, sich umzuhören, was mit dessen Schwester Griselle los ist, die in Wien Schauspielerin wurde und dann nach Berlin zog. Immerhin habe er in den USA von ihr seit Wochen nichts mehr vernommen. Da wird’s recht atemberaubend. Details seien hier keine verraten, vielleicht willst du/wollen Sie ja diese spannende, teils aber schon recht heftige szenische Lesung bei Gelegenheit auch besuchen. Das Büchlein selbst ist kaum bekannt.

Letztlich bittet Martin seinen einstigen Galerie-Kompagnon und ehemaligen Freund, er möge ja keine Briefe mehr schreiben – Kontakt mit einem Juden! Das könne ihm hier schaden, ja sogar in Gefahr bringen. Und dennoch behirnt er offenbar nicht, wie diktatorisch und einschränkend das System ist, für das er führend arbeitet, es intensiv verteidigt. Die Autorin lässt Martin nun sogar zum hetzerischen Schreiber gegen alles Jüdische werden.

Früh bekannt

So „nebenbei“ kommen aber bereits – das Buch erschien 1938(!) also ein Jahr vor Beginn des 2. Weltkrieges – massenhaft Verhaftungen Oppositioneller und Konzentrationslager zur Sprache. Das erste wurde ja auch schon 1933 in einer Militärschule bei Weimar eingerichtet. Aber nach 1945 behaupteten allzu viele Menschen, sie hätten nichts davon gewusst.

Szenische Lesung
Regisseurin und Initiatorin dieser szeneischen Lesung, Susanne Höhne vor dem vollbesetzten Festsaal mit knappen Einleitungsworten

Susanne Höhne vom „Verein für darstellende Kunst Beseder“, die sich diese szenische Lesung ausgedacht und sie inszeniert hat, erzählt im Gespräch mit Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… auf die Frage, wie sie auf diese so dichte Darstellung der politischen Entwicklung in dieser Form gekommen sei: „Ich hab das Büchlein vor ungefähr 30 Jahren im jüdischen Museum Berlin gekauft. Immer wieder hab ich es im Hinterkopf gehabt und nun gedacht, das wäre vielleicht gut und notwendig, es jetzt aufzuführen.“
Beseder ist übrigens Hebräisch und bedeutet auf Deutsch „ok“, „alles gut“…

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Zu einem Interview mit fünf Jugendlichen, die die szenische Lesung im Festsaal des Gymnasiums Hagenmüllergasse miterlebt hatten geht es hier unten.

Szenische Lesung "Adressat unbekannt" im Festsaal des Gymansiums Hagenmüllergasse

Selber nicht helfen, aber flehen, als für ihn Gefahr drohen könnte

Mit Daniel, Markus und Robin sowie Moritz und Theresa setzten sich fünf der Oberstufen-Schüler:innen, die zuvor die 1 1/4 -stündige szenische Lesung mit Cello-Begleitung, -Untermalung und … verfolgt hatten in eine Interviewrunde mit Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… Zu einer Besprechung dieser Veranstaltung geht es gleich hier unten.

Die ersten drei Genannten haben selber Theater-Erfahrung in der Bühenspielgruppe, Robin schreibt sogar am Stück, das ab Jänner geprobt und im Mai aufgeführt werden wird – ebenfalls in dem großen Festsaal hier im ersten Stock des Gymnasiums Hagenmüllergasse.

„Am Anfang hat es sich zwar ein wenige gezogen“, fügt Markus seinem allerdings ersten Satz hinzu: „Das Ende hat sich sehr spannend gestaltet, ab dort wo es direkter heftiger wurde in dem Briefwechsel der beiden und insbesondere Martin gar nicht mehr freundlich geschrieben hat.“

Theresa, die Jüngste – sie besucht die 6a, während die ersten drei Jungs in die 8b und Moritz in die 8a geht – meinte in ihrem ersten Satz: „Sehr, sehr gut. Gegen Ende schenken sie sich gegenseitig nichts mehr. Da hat auf einmal sogar Martin Angst, obwohl er vorher ja das System verteidigt hat.“

Daniel hebt neben dem inhaltlichen Spannungsbogen vor allem die Musik hervor, „die die Emotionen stark zum Ausdruck bringt“.

Szenische Lesung
Szenische Lesung „Adressat unbekannt“ im Festsaal des Gymansiums Hagenmüllergasse

Doppelmoral

Markus verweist noch auf die deutliche Doppelmoral Martins. Am Ende, wo er selbst Angst hat, fleht er Max fast an, ihm ja nicht mehr zu schreiben, weil ihn der Kontakt zu einem Juden ja in Gefahr bringt. Aber als Max ihn gebeten hatte, sich um seine schauspielende Schwester, die aus Berlin flüchten musste, anzunehmen, da hat Martin sie glatt vor seiner Haustür von SA-Männern erschießen lassen.

Hineinversetzen?

KiJuKU wollte von den Jugendlichen auch wissen, ob sie sich möglicherweise in die Lage des einen oder des anderen hineinversetzen hätten können/könnten.

Robin packt zunächst die Erkenntnisse auch aus der Bühnenspielgruppe aus. „Wenn du eine Rolle spielst, musst du immer versuchen, nicht moralisch zu be- bzw. verurteilen, sondern dich in die Figur hineinzudenken. Bei Max ist das einfacher, weil der auch empathischer agiert.“

Daniel verweist auch auf den Aspekt der Propaganda, die offenbar bewirkt habe, wie schnell Martin sich von einem Liberalen zu einem Nazi entwickelt habe – im Übrigen ja nicht einmal Mitläufer, sondern mit führender Funktion in seiner Stadt.

„Und wie stark das schon in seiner Psyche verankert ist hat, zeigt ja auch, dass die Familie den jüngsten Sohn ausgerechnet Adolf nennt.“

Moritz konnte sich gut in Max hineinversetzen. Theresa merkte an, dass zwar Max Reaktion, weiter Briefe zu schreiben, um mehr zu erfahren, was Martin zu seiner Entwicklung getrieben habe, aber, „dass er ihn jetzt in Gefahr bringt, verstehe ich zwar, weil Martin ja Max‘ Schwester nicht geholfen hat, aber er macht sich ja jetzt auch schuldig, wenn ihm was passiert.“

Szenische Lesung
Szenische Lesung „Adressat unbekannt“ im Festsaal des Gymansiums Hagenmüllergasse

Wiederholung möglich?

Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… wollte dann noch wissen, ob die fünf Jugendlichen denken oder meinen, so etwas wie die Entwicklung in Deutschland vor rund 90 Jahren könne sich heute wiederholen.

Praktisch alle sehen Gefahren in bestehendem und leider auch (wieder) zunehmendem Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Ausgrenzung. Und diese können sich „dank“ Social Media schnellerer und größerer Verbreitung bedienen. Die seien noch effizienter als die Propagandamethoden der Nazis seinerzeit, meinte Moritz. „Und durch die Mittel von KI (Künstlicher Intelligenz) kann Hass-Propaganda noch überzeugender verbreitet werden“, gibt Daniel zu bedenken. Auf die Frage, wie damit direkt in der Schule damit umgegangen werde, kommt die erste spontane Antwort: „Unterschiedlich“. Die drei 8b-Schüler schwärmen fast von kompetenter Auseinandersetzung sowohl in Geschichte als auch in Deutsch, fügen aber gleich hinzu, „das ist in der Schule aber doch die Ausnahme. Wobei der Kollege aus der Parallelklasse hinzufügt, dass „wir uns aktuell in Geschichte und Ethik ausführlich mit dem brennenden Nahostkrieg beschäftigen. Auseinandersetzung mit Medienkompetenz spielt aber sonst bei uns weniger Rolle. Die Kollegin aus der sechsten wirft ein, erst seit Anfang dieses Schuljahres hierher gewechselt zu haben von einer privaten AHS weg und merkt an: „Dass Lehrerinnen und Lehrer in Privatschulen besser sind, ist ein Gerücht.“ Und ergänzt: „Ich finde es wichtig, dass Lehrkräfte Kindern und Jugendlichen nicht Meinungen aufdrängen.“

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Mahnstein aus Mauthausen vor dem Haus, um das sich der Film dreht

Gänsehaut für Regisseur: Wird sozusagen Hitlers Wunsch umgesetzt?

Sehr solide, umfangreich recherchiert, viele Interview-Partner:innen – sowohl bekannte, namentlich Genannte, ebenso wie Passant:innen, Nachbar:innen. Archivmaterial. Fakten. Aber auch persönliche Gedanken samt kritischer (Selbst-)Reflexion. All das bringen die fast 100 Minuten, also mehr als 1 ½ Stunden, des Dokumentarfilms „Wer hat Angst vor Braunau?“ von Günter Schwaiger auf die Leinwand; Kinostart ist am 1. September 2023, schon davor gibt es, vor allem in Oberösterreich, einige Filmvorführungen mit dem Regisseur und Kameramann in Personalunion, der auch – gemeinsam mit Julia Mitterlehner – den Film produziert hat.

Das Haus

Schwaiger wollte einen Film über das Haus Salzburger Vorstadt 15 (vormals Vorstadt 219) in Braunau drehen, in dem Adolf Hitler die ersten drei Kinderjahre verbracht hatte (1889 bis 1892). Und war verwundert, dass es der erste Film über dieses Haus werden sollte. Klar war für ihn, es geht weder um das Haus, noch um den Naziführer als solches, sondern um die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Und viel auch darum, wie es dazu kommen konnte, dass eine große Mehrheit begeistert das Niedermachen anderer Menschen bis zu deren Ermordung mitmachen, gutheißen oder zumindest „wegschauen“ konnte.

Und wie heute noch immer sozusagen „das Böse“ in dieses Haus und darüber hinaus diese oberösterreichische Grenzstadt zu Bayern (Simbach) projiziert – und damit weit weg von sich geschoben – werden soll. Aber auch wie so manche sich gegen Verdrängen, unter den Teppich kehren, für Hinterfragen und Aufklärung einsetzen.

Mit einer, die genau Letzteres engagiert macht, der 31-jährigen Mittelschul-Lehrerin Annette Pommer, die eine der Protagonist:innen des Films ist, durfte Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… ein ausführliches interview führen. Zu diesem geht es hier unten.

Ewiggestrige

Der Filmer drehte auch zwei Mal (2021 und 2022) am 20. April (Hitlers Geburtstag) vor dem Haus. Polizei patrouilliert ums Haus und doch tauchen vereinzelt Menschen auf, die im einen Fall einen Kranz mit vielen gelben Rosen hinlegen und der Schleife „RIP USA“ und im anderen Fall zwei Kerzen deponieren. Ersterer, der damit „Ruhe in Frieden – Unser Seliger Adolf“ aussagen wollte, greift aggressiv auf die Kamera, muss aber miterleben, wie ein älterer Passant einfach den Kranz nimmt und in den nächsten Mistkübel befördert. Im Jahr darauf stellt sich einer der Kerzenspender Günter Schwaiger und sagt ihm klipp und klar, dass er nach wie vor Nazi sei.

Eine Nachbarin erzählt, dass es an einem der früheren Jahrestage einen versuchten Aufmarsch einiger Burschen in SA-Uniform gegeben habe. Der Spuk sei aber schnell vorbei gewesen, als eine weitere Nachbarin einen Kübel Wasser aus dem Fenster geleert habe.

Kundgebung dafür, dass der Mahnstein bleiben soll
Der Filmemacher bei der Kundgebung dafür, dass der Mahnstein bleiben soll

Nie wieder!?

Der Film zeigt aber auch die schwierige Auseinandersetzung rund um dieses Haus. Das 1989 aus einem Steinblock aus dem ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen vor dem Haus angebrachte Mahnmal mit der Inschrift „Für Frieden, Freiheit und Demokratie. Nie wieder Faschismus. Millionen Tote klagen an“ sollte im Zuge der Umgestaltung entfernt werden. Erst eine Protestwelle der Zivilgesellschaft und danach ein einstimmiger Beschluss des Braunauer Gemeinderates verhinderte dieses Vorhaben.

Noch viel länger schon wurde um Nachnutzung des Hauses heftig diskutiert. Jahrzehntelang war eine Einrichtung für behinderte Menschen der Organisation „Lebenshilfe“ untergebracht, die 2011 auszog, weil das Haus nicht barrierefrei umgebaut werden durfte. Im Zuge der Debatten um dieses Gebäude, das 2016 enteignet wurde, gab es vor allem zwei gegensätzlichen Pole – sozial-karitative Einrichtung oder Polizei. Dem fügte der damalige (2016) Innenminister Wolfgang Sobotka einen dritten Vorschlag hinzu: Abreißen.

Kapitulation, Verleugnung

Das wäre ein Kapitulation vor den Nazis, schrieb der junge Autor Elias Hirschl, auch die von Sobotka selbst eingesetzte Kommission von Historiker:innen zeigte sich entsetzt: „Das würde einer Verleugnung der NS-Geschichte gleichkommen“, wird etwa Oliver Rathkolb von der Uni Wien damals (2016) zitiert.

Dreh am Bahnhof Braunau am Inn, im Bild: Tonmeister Stefan Rosensprung
Dreh am Bahnhof Braunau am Inn, im Bild: Tonmeister Stefan Rosensprung

Während der fünfjährigen Dreharbeiten filmte Schwaiger auch Menschen einer der Lebenshilfe-Einrichtungen. Diese brachten auf den Punkt, „Hitler hätte Leute wie uns umbringen lassen“ und genau deswegen fänden (nicht nur) sie, dass die Unterbringung einer sozialen Einrichtung „etwas Heilendes, weil Lebensbejahendes“ in dieses Haus bringen würden. Jedenfalls etwas, dass Hitler sicher nicht gewollt hätte.

Fassade

Fatal nennen so manche (nicht nur) im Film, dass vor allem die Bevölkerung Braunaus nie wirklich in den Prozess der Entscheidung eingebunden worden sind, was mit dem Haus in ihrer Stadt passieren soll. Und Polizei wäre das falsche Signal, so nicht wenige. Der zuständige Sektions-Chef, der im September 2021 nach vielen abgelehnten Gesuchen doch eine Genehmigung erteilte, im Inneren des Hauses zu drehen, meinte, die Polizei sei eben die Organisation, die Freiheits- und Menschenrechte bewahre. Außerdem würden hier dann Anti-Difammierungs-Schulungen für Polizist:innen vor allem im Umgang mit neu zugewanderten Bürger:innen stattfinden. Außerdem werde die Fassade umgestaltet und damit die Attraktion für (Neo-)Nazis verhindert.

Mahnstein aus Mauthausen vor dem Haus, um das sich der Film dreht
Mahnstein aus Mauthausen vor dem Haus, um das sich der Film dreht

Was solche – vom Filmer vor dem Haus befragt – übrigens verneinten. Wie es aussehe, wäre ihnen egal. Würde also auch für den Fall eines Abrisses gelten.

Der Blick ins Archiv

Als dramaturgischen Höhepunkt setzte Günter Schweiger einen Gang ins Stadtarchiv, gemeinsam mit Florian Kotanko, dem Leiter der Braunauer Zeitgeschichte-Tage ans Ende des Films. Wenngleich das verblüffende Ergebnis hier schon im Titel dieses Betrages angedeutet ist (auch in der Ankündigung des Films wird es genannt), aber konkreter hier: Im Mai 1939 schrieb die Wochenzeitung „Neue Warte am Inn“, dass auf Wunsch Adolf Hitlers sein Geburtshaus zu einer Kanzlei der Kreisleitung umgebaut werden solle.

Da bekam der Regisseur, wie er im Film sagt, „Gänsehaut. Was ist das denn anderes als eine administrative Nutzung?“

Erfüllt das Innenministerium also mit der Entscheidung Polizeiinspektion statt sozial-karitativer Einrichtung ungewollt/unbedacht den Wunsch des Nazi-Führers?

101 und 31 Jahre

Der Film ist übrigens einer wichtigen Zeitzeugin, die zu Wort kommt, gewidmet, Lea Olczak. Die heuer im 101 Lebensjahr verstorbene Frau kam aus einer Familie, die dem Führer nicht zujubelten und die polnischen Zwangsarbeitern halfen. Sie war nach dem Krieg sechs Jahre lang Vize-Bürgermeisterin in Braunau (1967 bis 1973), als einer der ersten überhaupt in dieser Funktion in ganz Österreich.

Auf der anderen Seite des Altersspektrums kommt – wie schon weiter oben erwähnt – die 31-jährige Annette Pommer mehrmals im Film zu Wort – sie ist Mittelschul-Lehrerin, mit Leidenschaft vor allem für Geschichte. Ihr Credo: „Verantwortung übernehmen braucht Mut, tut oft weh und fehlt oft…“

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Plakat zum Film „Wer hat Angst vor Braunau?“ Ein Haus und die Vergangenheit in uns
Plakat zum Film „Wer hat Angst vor Braunau?“ Ein Haus und die Vergangenheit in uns