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Szenenfoto aus "Die Namenlosen" der Performancegruppe "Nesterval"
Szenenfoto aus "Die Namenlosen" der Performancegruppe "Nesterval"
20.05.2023

Fast hautnah am Geschehen tödlicher Ausgrenzung

Stationen der Verfolgung Homosexueller in der Nazi-Zeit – in Dutzenden Theaterszenen der Gruppe Nesterval in einer Halle des ehemaligen Nordwestbahnhofes.

Zwei Männer treffen einander, offenbar heimlich im Dunkeln. Schauen sich ängstlich um, fühlen sich verfolgt, laufen davon. Ein erster Eindruck aus der Wanderung durch einen der Gänge zwischen von schwarzen Stoffen abgehängten Szenen-Orten in einer großen Halle des ehemaligen Nordwestbahnhofs (Zugang über brut, Wien-Brigittenau, 1200). Ein Eindruck, den nicht alle Zuschauer:innen haben. Denn jede und jeder muss sich entscheiden, welchen Weg sie/er einschlägt: Welchen Protagonist:innen folgen? Bei dieser/diesem bleiben oder zu anderen wechseln.

Eigene Wege finden

Mehr als 160 verschiedene Szenen, 300 Seiten – das könnte keine Zuschauerin/kein Zuschauer bewältigen. Und es würde logistisch gar nicht möglich sein, weil viele Szenen zeitgleich spielten. So erlebt nach einem kurzen gemeinsamen Intro in der „Kantine der Porzellanfabrik Nesterval“ nicht jede und jeder im Verlauf des rund dreistündigen Geschehens im Wander-Stationenstück „Die Namenlosen“ dasselbe, jedenfalls kann niemand alles erfahren. Dafür aber bist du – mit einer Handvoll anderer – sehr nah am Geschehen, oft in engen Räumen fast hautnah dran, tauchst in privateste Situationen ein.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Namenlosen“ der Performancegruppe „Nesterval“

Jede und jeder muss aber nicht bei der zuerst gewählten Figur bleiben. Wechseln in ein anderes Ambiente, einen anderen Erzählstrang mit anderen handelnden Personen ist jederzeit möglich. Sorgt zwar vielleicht für kurzfristiges Grübeln – bei wem und welcher Handlung bin ich da jetzt gerade. Aber auch möglich. Vielleicht, nein wahrscheinlich nicht ganz so intensiv wie beim Dranbleiben an einem Strang…

Wahre Hintergründe

Spätestens seit Nennung des Kantinen-Namens im vorigen Absatz ist klar, es handelt sich um eine, die jüngste, Produktion der Performance-Gruppe Nesterval rund um Teresa Löfberg (Buch) und Martin Finnland (künstlerische Leitung, Regie und Schauspiel – in der Rolle des Fotografen F.). Für „Die Namenlosen“ haben vor allem die beiden sowie Gisa Fellerer und Lorenz Tröbinger als Co-Autor:innen mit Andreas Brunner von qwien.at inhaltlich und dokumentarisch zusammengearbeitet. Letzterer hat u.a. mehr als 60 Biografien von Männern, Frauen und Personen, die heute als Trans* oder intergeschlechtlich gelesen werden können, und die in der Nazi-Zeit wegen homosexueller Handlungen verfolgt wurden, recherchiert und als Buch veröffentlicht (siehe Info-Box am Ende des Beitrages).

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Namenlosen“ der Performancegruppe „Nesterval“

Puzzles aus echten Lebensgeschichten

So manche dieser Lebensgeschichten dieser echten Menschen sind als Puzzlestücke eingeflossen in jene Charaktere des Stücks, die nur mit Anfangsbuchstaben bezeichnet sind und als Ensemble der „Namenlosen“ gespielt werden. Als Gruppe stehen diesen Verfolgten „Die Anderen“ gegenüber, die Rollennamen tragen und auf der Seite des Regimes stehen – zumindest anfangs und lange Zeit. Zu ihnen gehören unter anderem die Fabriksbesitzerin Martha Nesterval (Aston Matters) und ihr Ehemann, der Arzt Arthur Nesterval (Johannes Scheutz), der nicht nur seine Ehefrau demütigend behandelt, sondern den Fotografen F. (wie schon oben erwähnt: Martin Finnland) in jenes Bad lockt, das als Schwulentreff bekannt ist. Der schöpft Hoffnung, wenn sogar so einer wie der Arzt auf ihrer Seite steht, dann könnte der sie vielleicht vor Verfolgung schützen.

In einer sehr intensiven Szene im Bad stellt sich jedoch heraus, was zu vermuten war, dass es sich um eine Falle handelt, um F. an die Nazis auszuliefern. Mit fürchterlichen, letztlich tödlichen Folgen für diesen.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Namenlosen“ der Performancegruppe „Nesterval“

Rettungsversuche

Du kannst aber eventuell auch die Filmschauspielerin R. (Romy Hrubeš) begleiten, die versucht, ihre Berühmtheit und auch Beleibtheit bei Nazi-Bonzen zu nutzen, um die eine oder den anderen der Verfolgten zu retten – was immer weniger gelingt. Es gibt unzählige Erzählstränge, Figuren und Szenen, die natürlich immer wieder das eine oder andere Mal zu Überschneidungen und Begegnungen führen.

Wandlungen

Und die – spätestens mit der Wende im Krieg und der sich abzeichnenden Niederlage der deutschen faschistischen Wehrmacht – dazu führen, dass einstige glühend-fanatische Anhänger:innen sich vom „Führer“ entfernen. Und sei es „nur“, weil sie nun ihr eigenes Leben bedroht sehen, nachdem sie doch – wie der Arzt – an die Front beordert werden.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Namenlosen“ der Performancegruppe „Nesterval“

Heftigst ist die Schluss-Szene mit ihren schlichten Grabstellen und einem – alles sei nicht gespoilert, darum nur verklausuliert umschrieben – krassen Bezug zur Realität jenseits der fiktiven Figuren des intensiven dreistündigen Stationen-Theaters, das schon emotional sehr mitnimmt. Da kommt – meiner Meinung/meinem Gefühl nach dann der Übergang zum fröhlichen Ende wieder in der Kantine mit Schlussapplaus zu abrupt.

Wenngleich in der Kantine, die anfangs als Art Bar einer der letzten Zufluchtsorte für queere Menschen in der Zeit des aufkommenden Faschismus ist, nun am Ende Chansons wie „Kann denn Liebe Sünde sein?“ der inhaltliche Bogen wieder geschlossen wird.

Szenenfoto aus

Aktuelle Bezüge

Apropos Inhalt: Das ausführliche Programmheft weist nicht nur auf die Geschichte der Verfolgung homosexueller oder von Trans*-Menschen hin, sondern stellt natürlich auch Bezüge zu aktueller Homophobie in verschiedensten Teilen der Welt her, die auch vor Österreich nicht Halt machen – siehe die erst wenige Wochen zurückliegende Kampagne mit Aufmarsch Rechts(extrem)er gegen eine Kinderbuchlesung einer DragQueen.

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INFOS: WAS? WER? WANN? WO?

Die Namenlosen

Koproduktion Nesterval und brut Wien

Ensemble

Die Namenlosen
Der C.: Christopher Wurmdobler
Der F.: Martin Finnland
Die G.: Gisa Fellerer
Die K.: Chiara Seide
Der P.: Stefan Pauser
Die R.: Romy Hrubeš
Der S.: Sophie Riedl
Der W.: Willy Mutzenpachner

Die Anderen
Anna Binder: Rita Brandneulinger
Arthur Nesterval: Johannes Scheutz
Dietrich Wagner: Sven Diestel
Eduard Glück: Gellert Gerson Butter
Karl Seiringer: Martin Walanka
Lotte Glück: Laura Hermann
Martha Nesterval: Aston Matters
Paul Lopek: Lorenz Tröbinger
Pfarrer Eduard Köck: Peter Kraus
Traudl Jungmann: Julia Fuchs
Viktor Eckardt: Alkis Vlassakakis

Leading Team

Künstlerische Leitung / Regie: Martin Finnland
Buch: Teresa Löfberg
Co-Autor:innen: Martin Finnland, Gisa Fellerer, Lorenz Tröbinger
Co-Konzept, Anträge & Archiv: Martin Walanka
Co-Regie: Lorenz Tröbinger
Produktion: Emilie Kleinszig
Bühnenbild: Andrea Konrad
Set-Bau: Andreas Holzmann (Vienna Decoration Company), Walter Winkelmüller
Kostümbild: Dritan Kosovrasti
Choreografie: Marcelo Doño
Komposition: Julian Muldoon
Song-Texte: Sarah Muldoon

Sounddesign & Video: Alkis Vlassakakis, Lorenz Tröbinger
Technik: Plan B, Till Gatermann
Mitarbeit Stückentwicklung: Gisa Fellerer

Wissenschaftliche Mitarbeit: Andreas Brunner, Jürgen Pettinger, Hannes Sulzenbacher
Consulting Magie: Raphael Macho
Team Ausstattung: Ruth Grau, Willy Mutzenpachner, Milo Marx, Lorenz Hötzeneder

Abendspielleitung Kantine: Peter Kraus
Regieassistenz: Laura Athanasiadis
Inspizienz: Bettsy Kröger Ela Lankes
Fräulein Ilse: Sabine Anders
Herr Gotthold: Sebastian Kieberl

Bar
Vivian (Host): Denice Bourbon
Frances (Co-Host): Simon Stockinger (bis 20. Mai 2023); Anne Wieben (24. Mai bis 16. Juni 2023)
Tom (Ausschank): Norbert Fiedler
Guest Stars: Alexandra Thompson, Bernhard Hablé, Eva Deutsch, Jürgen Pettinger, Luki Kirisits, Markus Gorfer

Redaktion Programmheft: Gisa Fellerer, Tove Grün

Trailer: Lorenz Tröbinger
Set- & Portraitfotos: Julia Fuchs
Grafik: Rita Brandneulinger
Website: Gisa Fellerer
Social Media: Christopher Wurmdobler

Wann & wo?

17.- 20., 24. – 27., 31. Mai 2023
1. – 3., 7. – 10., 14. – 16. Juni 2023
Wien: Nordwestbahnhalle, Zugang über brut Wien: 1200, Nordwestbahnstraße 8 – 10
Telefon: 01 587 87 740
hrut-wien -> Nesterval

11. – 13., 15. -19., 22. – 26. August 2023
Hamburg: Kampnagelfest

Nesterval.at

Bücher

Andreas Brunner
Als homosexuell verfolgt. Wiener Biographien aus der NS-Zeit
herausgegeben vom Wien-Museum
Mandelbaum Verlag, 2023
Mehr als 60 Biographien von Männern, Frauen, Personen, die heute als Trans* oder intergeschlechtlich gelesen werden können, die in der Nazi-Zeit wegen homosexueller Handlungen verfolgt wurden
mandelbaum -> als-homosexuell-verfolgt

Andreas Brunner/Hannes Sulzbacher (Herausgeber)
Homosexualität und Nationalsozialismus in Wien
In elf Beiträgen von Wissenschafter:innen werden rechtliche, sexualgeschichtliche und soziale Aspekte, aber auch die Mechanismen intersektionaler Fragen der Verfolgung analysiert
erscheint Anfang Juni 2023
Mandelbaum Verlag
mandelbaum -> homosexualitaet-und-nationalsozialismus-in-wien/

Jürgen Pettinger
Franz – Schwul unterm Hakenkreuz
Die Geschichte von Franz Doms, einem Opfer der systematischen Verfolgung von Homosexuellen während des NS-Regimes
Verlag Kremayr und Scheriau
kremayr-scheriau -> franz

Jürgen Pettinger
Dorothea – Queere Helding unterm Hakenkreuz
Die berühmte Schauspielerin Dorothea Neff (1903–1986) nahm ab 1940 ihre jüdische Freundin Lilli Wolff als U-Boot in ihrer Wohnung auf.
kremayr-scheriau -> dorothea