„Nicht genügend, setzen!“ – So „begrüßt“ der Schauspieler Sven Kaschte die Jugendlichen in der mobilen, vom niederösterreichischen Landestheater für Klassenzimmer gedachten, Version des Klassikers „Der Schüler Gerber“.
Die drei Worte sind offenkundig die Lieblings-Aussage des Lehrers Artur Kupfer, allgemein in der Schule und darüber hinaus als „Gott Kupfer“ bekannt und benannt. Er ist der absolute Gegenspieler des Schülers Kurt Gerber, Spitzname Scheri (abgeleitet von Geri für Gerber „und daraus entstand, Gott weiß warum, Scheri“ – Zitat aus dem Roman von Friedrich Torberg, Originaltitel 1930 „Der Schüler Gerber hat absolviert“).
Auch wenn das Buch nunmehr fast 100 Jahre alt ist, selbst die berühmte Verfilmung auch schon mehr als 40 Jahre zurückliegt (1981, Drehbuch und Regie: Wolfgang Glück), so hat das Grundthema (viel zu wenig) von seiner Brisanz verloren: Es gibt (noch immer) Lehrer:innen, heute deutlich pädagogisch gebildeter als damals, die in autoritärer Manier Schüler:innen abkanzeln, nieder und fertig machen.
Und so braucht es nicht viel, damit der Schauspieler (Inszenierung: Verena Holztrattner, Dramaturgie: Thorben Meißner) aus dem auf eine Schulstunde gekürzten Romantext (ca. 350 Seiten) ein leider zeitloses Stück macht. Ein großer roter Knopf als Buzzer auf dem mittig gestellten Tisch vor den Reihen der Schüler:innen ermöglicht ihm Pausen-Läuten oder Musik am Laptop zu aktivieren; nahe ran an das Publikum, die eine oder andere Person direkt ansprechen, sie ersuchen, beispielsweise den Vater Kurt Gerbers zu sprechen (Kärtchen mit den Texten überreicht Kaschte aus dem Sakko) oder gar ihn selbst in einem Dialog mit der von ihm angehimmelten Lisa sprechen lassen…
Beim Lokalaugenschein von Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… im Souterrain einer Expositur der BASOP / BAfEP (Bundes-Bildungsanstalten für Sozialpädagogik und Elementarpädagogik) jedenfalls waren die Jugendlichen zweier dritten Klassen die ganze Zeit gespannt dabei, trotz fast ständig vorbeirauschenden Verkehrslärms. In der anschließenden Reflexion mit aus der Theaterpädagogik entliehenen Mitteln konzentrierten sich Gespräche rund um die Themen des (nicht) sprechen Könnens über Gefühle – ausgehend von Kurt Gerber. Und über das noch immer allgegenwärtig als Damoklesschwert über Schüler:innen hängende „nicht genügend“. Das oft nicht nur eine Leistung beurteilt, sondern die ganze Person abwertet.
Der Roman endet mit einer „Zeitungsmeldung“, die besagt, dass der 19-jährige Schüler Kurt Gerber durch einen Sprung aus dem dritten Stock seiner Schule starb – vor Bekanntgabe der Ergebnisse der mündlichen Matura; mit besonderer Tragik, dass er bestanden hatte. Die Klassenzimmer-Variante des NÖ-Landestheaters endet hingegen damit, dass der Schauspieler als Kurt Gerber den Raum durch die Tür verlässt und das Ende offenlässt.
Wäre schön, wenn ein derartiges Stück nur mehr als historische, längst überwundene Episode gespielt werden könnte. „So arg ist es bei uns nicht, aber dass sich manche Lehrerinnen oder Lehrer einzelne Schüler:innen rauspicken, die sie niedermachen, das gibt’s schon bei uns auch“, meinte vor fünf Jahren ein Jugendlicher nach dem Stück „Der Schüler Gerber“ im Foyer des Jugendtheaters Next Liberty in Graz (in einer Fassung von Felix Mitterer) zum Journalisten, damals noch für den Kinder-KURIER. Der Gott Kupfer ist wie unsere Englisch-Lehrerin sagten Schüler:innen nach einer „Gerber“-Inszenierung (ebenfalls der Mitterer-Version) im Dschungel Wien.
wenn-lehrer-schueler-mobben -> noch im Kinder-KURIER
Die ganze Bühne eine schräge Bettfläche weiß mit dünnen roten Strichen, die ein groß-kariertes Muster ergeben. Mittendrin ein üppiger König mit kleiner roter Krone. Der zählt Pölster – „61, 62, 63, 61, 64, 65“. Zeigt sich verwundert. Zählt noch einmal und noch einmal. Ist verärgert. Er hatte doch 66 Kissen, irgendwer hat wohl eines geklaut. Der König trägt einen außergewöhnlichen Namen, der schon den Kern der Geschichte aussagt: „Die Schachtel, die alles hat, alles darf und nichts muss“.
Und alles heißt, wenn er 66 Pölster hatte, dann will er genau die haben und nicht einen weniger.
Folgerichtig schreit er herrschsüchtig nach dem Diener. Auch der heißt nicht alltäglich: Törtchen, stets zu Diensten. Natürlich kommt der für des Königs Geschmack zu langsam – und darf nicht wirklich die Wahrheit sagen, dass sich sein und aller Herren verzählt hat. Muss also los, um ein 66. Kissen aufzutreiben.
Soweit der Beginn des Stücks „Der König, der alles hatte“ im Grazer Jugendtheater Next Liberty. Verena Richter, Kabarettistin, Musikerin und Autorin hat es geschrieben unter dem Titel „Schachteldrama“ – vor drei Jahren im Rahmen des Retzhofer Dramapreises, in einer Kombination aus Workshops und Wettbewerb. Und ihr Text ist mit Wortwitz(en) gespickt, nicht wenige eher für erwachsenes (Begleit-)Publikum.
Zurück zur nunmehrigen Inszenierung (Regie: Anja Michaela Wohlfahrt). Während also der König (Martin Niederbrunner), der alles für sich haben will, dabei aber nicht nur beim Zählen ein bisschen dümmlich wirkt und sein Diener (Helmut Pucher), der nie an den Aufträgen verzweifelt und heiter bleibt, um den 66. Polster eilen will, läutet es an der Tür (EU-Hymne). Eine Gästin von weit her – jenseits der Schuldenberge, hinter den Gierschluchten aus einem Land, wo die Menschen (fast) nichts haben. Darauf weist Cassandra Schütt die „Schachtel, …“ hin. Dieses Ungleichgewicht von Reichtum und Armut führt aber auch dazu, so die Gästin, dass dem König doch etwas fehle: Gerechtigkeit.
Hoppla, das kann doch nicht sein, dass der Herrscher nicht alles hat. Hat er doch nicht nur 66 Pölster, 12 luxuriöse Badewannen, einen vorderasiatischen Rückenkratzer, sondern sogar königsblaue Eierschalen-Sollbruchstellen-Verursacher… Aber tatsächlich, auf der Liste seines Hab und Gutes gebe es kein Gereuchtigbumms. Also müsse er auch das haben.
Da trifft es sich gut, dass wieder die Europa-Hymne erklingt; ein Paket wird geliefert. Überzeugender Überzeuger (Simone Leski) mit Jacqueline, der Krawatte der Überzeugung um den Hals, üppig kostümiert (Ausstattung: Helene Payrhuber), trifft ein.
Endlich Gerechtighummsdipummsdi?
Naja, doch irgendwie nicht.
Die Figur tritt in der Folge noch zwei Mal auf – immer anders, ziemlich schräg kostümiert, um angeblich so ein Gerecht-, Gereucht, also so was zu bringen, das die Schachtel noch nicht hat. Und verlangt dafür immer mehr. Beim zweiten Mal den Diener – den will der König nicht hergeben. Dann bliebe ja gar keiner mehr, der ihn bewundern und bedienen könne – wobei da schon ein bisschen mitschwingt, dass er auch nicht ganz allein bleiben will.
Zuletzt ist der König bereit zu zahlen „koste es, was es wolle“. Bühne wird leer geräumt. Doch nicht ganz, einen Polster hält er noch in Händen – und den teilt er sich nun als Sitzgelegenheit mit Törtchen, stets zu Diensten.
Happy End, Vorhang zu. Applaus.
Ob zuvor die einkassierten Kissen als Symbol für alles, überhaupt an die Armen im Land der Gästin jenseits der Gierschluchten gehen oder erst recht nur an einen anderen Gier-Raffer, den überzeugenderen Überzeuger? Und wie der König sich überhaupt veränderte? In der Stunde, oder vielleicht auch nur den 55 bis 58 Minuten vor dem geteilten Polster, ist keine wirkliche Entwicklung erlebbar. Mehr oder minder bleibt die Schachtel in ihrer alles haben wollen-Mentalität. Da braucht’s eben auch das Gerechtigkeitsdings. Womit die drei Aufritte der fantasievoll ausgestatteten Überzeugenderen Überzeuger dennoch more of the same (mehr vom Gleichen) bleiben – und in etwa ab der Hälfte des Stücks ein Gutteil des Kinderpublikums unruhig zu werden beginnt.
Außerdem schwebt über dem Polster-Teilen nicht nur ein neues Königs-Gefühl, sondern vielleicht eher noch das alte: Ich will wenigstens einen Bewunderer und Diener.
Neben dem Wortwitz aus dem Text und dem Spielwitz der Schauspieler:innen ist unbedingt noch der Live-Musiker Reinhard Ziegerhofer zu erwähnen. Mit Gitarre, Kontrabass, den er an passenden Stellen zum Percussion-Instrument umfunktioniert und Melodica ist er ständig auf der Bühne präsent. Als „Teil des Ganzen“ kriegt er manches Mal vom König Anweisungen, dass er schneller oder anders zu spielen habe. Und dennoch vermittelt er eine gewisse Unabhängigkeit.
Etliche Tage nachdem diese Stückbesprechung erschienen ist, meldete sich Autorin Verena Richter und meinte in einer eMail: „Ich teile in vielen Punkten deine Ansicht. Auch ich finde u.a., dass keine Entwicklung stattfindet und das Stück ab der Hälfte stagniert. Ich habe das Bedürfnis dir zu schreiben, dass an meinem Text ohne mein Wissen Änderungen vorgenommen wurden, Teile gestrichen und an anderen Stellen Text hinzugefügt wurde, der nicht von mir stammt.“
Compliance-Hinweis: Das Dramatiker:innen-Festival in Graz hat Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… zur Berichterstattung eingeladen.
It’s Classic-Time. Unabgesprochen und zufällig spielen derzeit einige Jugendtheater Klassiker – in unterschiedlichsten Bearbeitungen. Das Theater der Jugend in Wien schafft es aus fast unspielbar gehaltenen autobiographischen Texten von Thomas Bernhard ein tolles Stück zu zimmern. Und das ausschließlich aus Originalsätzen (gut kompakt verdichtet) über wichtige Stationen aus Kindheit und Jugend des angesichts bitterböser, messerscharfer Kritik umstrittenen, heute fast wie ein Säulenheiliger der österreichischen Literatur behandelten, Autors. Nicht zuletzt mit heftiger Kritik an Schulsystem und Lehrern – damals meist tatsächlich nur in der männlichen Form. Link zu einer Stückbesprechung am Ende dieses Beitrages.
Eine Woche später startet im Grazer Jugendtheater Next Liberty eine Bearbeitung von Hermann Hesses „Unterm Rad“. Rund um den Jugendlichen Hans Giebenrath – gespielt von Christoph Steiner – verarbeitete Hesse – wie in anderen seiner (Jugend-)romane und -erzählungen so manch eigene – schmerzliche – Erfahrungen und Erlebnisse oder aus seinem näheren Umfeld. Zentral geht’s hier um den schon genannten Hans, der gut und gerne lernt, aber aus ärmlichen Verhältnissen nur einen Weg zu höherer Bildung finden kann – in ein kirchliches Seminar mit Karriere als Pfarrer oder Lehrer. In dem Seminar freundet sich der schüchterne Außenseiter mit einem anderen Außenseiter an, Hermann Heilner, in dessen Rolle Lukas David Schmidt schlüpft. Hermann ist lebensfroher, lässiger, kreativ-genial. Hans lässt in seinem Studiereifer nach, der Dekan will ihm den Umgang mit dem Freund verbieten… Leben verbieten, Gefühle Jugendlicher ignorieren, nur strebern, Zusammenbrechen unter Leistungsdruck – (nicht nur) er kommt durch das ständige Laufen im Hamsterrad sozusagen unter die Räder. Letztlich muss Hans das Seminar abbrechen und beginnt eine Lehre – und fühlt sich dort viel wohler. Auch das eine Parallel zum eingangs beschriebenen Bernhard’schen jungen Lebenslauf, nur dass dies auf Hesse selbst nicht zutrifft, sondern in dem Fall nur auf seinen Protagonisten. Und auch nicht gut endet…
Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… durfte die erste Hauptprobe besuchen. „Bis zur Premiere kann sich da noch so manches ändern“, meinte Dramaturgin Iris Harter „warnend“. Der bekannte Jugendtheater-Autor und -Regisseur Kristo Šagor bat die Regie-Assistentin Viktorija Geljić mit dem Textbuch in der Hand in der ersten Reihe Platz zu nehmen: „Wenn du merkst, dass wer hängen bleibt, ruf ruhig laut den nächsten Satz rein. Das ist besser, wie wenn von der Bühne der Ruf nach „Text!“ kommt. Das hielt sich aber sehr in Grenzen, kam in den eineinhalb Stunden, die das Stück dauert, keine drei Mal vor.
Auch der Regisseur stoppt nur selten, am längsten justiert wird für die ersten Minuten, für die Phase des Publikums-Einlasses, wer da jeweils schon wie lange in Erscheinung tritt, auf der schrägen Fläche mit bedrohlicher stilisierter Klosterfassade (Ausstattung: Denise Heschl), die auf der Bühne steht an den Tisch mit vielen aufgeschlagenen Büchern geht, blättert oder sich hinsetzt. Da stoppt Kristo Šagor auf die Sekunde genau mit und sagt den Schauspieler:innen – neben den beiden schon genannten noch Helmut Pucher (u.a. Hans‘ Vater sowie Dekan und Pfarrer), Simone Leski (u.a. Emma mit der sich Hans anfreundet) und Martin Niederbrunner (u.a. Schuhmachermeister Flaig – außer Steiner schlüpfen alle anderen in viele Rollen) – wie lange sie da sind und ab das schon ausreicht. Ansonsten merkt er in ganz wenigen Szenen an, dass die eine oder der andere ein bisschen nach vor oder zurück rücken sollte, um ein stimmigeres Gesamtbild fürs Publikum zu erzeugen.
Dass die beiden genannten Klassiker nicht rein historische Stücke mit durchaus spannenden Blicken in die Vergangenheit sind, sondern – wenngleich sich vieles doch zum Positiven verändert hat -, von der Struktur her immer noch gravierende Probleme für heutige Jugendliche aufgreift, ist das eigentlich Tragische. Gut, dass Jugendliche immer ihre eigenen Wege suchen und finden werden müssen ist klar, aber dass Schule und Pädagogik noch immer häufig begrenzen und einschränken statt beflügeln?!
Ach, übrigens in einer starken Bearbeitung eines Klassikers spielt die Auseinandersetzung Jugendlicher mit der Erwachsenenwelt die Hauptrolle, in „Erwachsenenbeschimpfung“ (inspiriert und angelehnt an Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ von vier jugendlichen Schauspielerinnen mit und im Grazer Theater am Ortweinplatz (tao!) – auch hier der Link zur Stückbesprechung unter dem jetzigen Beitrag.
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