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Szenenfoto aus "Dr Churz, dr Schlungg und dr Böös"
Szenenfoto aus "Dr Churz, dr Schlungg und dr Böös"
15.03.2023

Ringkampf mit zärtlichen Momenten

Eines der Gastspiele aus der Schweiz nimmt Anleihe bei einem uralten Nationalsport, einer speziellen Form des Ringens. Ein anderes lud ein zu einem autofiktionalen Himmel- und Höllenritt; außerdem Splitter vom Performance-Parcours.

Eines der Gastspiele aus der Schweiz nimmt Anleihe bei einem uralten Nationalsport, einer speziellen Form des Ringens. Ein anderes lud ein zu einem autofiktionalen Himmel- und Höllenritt; außerdem Splitter vom Performance-Parcours.

Ein großer Kreis, gut zwei Handbreit hoch mit Sägespäne ausgelegt, der an eine Zirkusmanege – ohne Begrenzung – erinnert ist die Kampftanz-Fläche für „Dr Churz, dr Schlungg und dr Böös“, eines der Gastspiele aus der Schweiz beim aktuell – noch bis 18. März 2023, das genannte Stück nur noch am 15. März, 19 Uhr – laufenden vierten Skin-Festival im Dschungel Wien.

„Schwingen“ heißt ein Kampfsport aus dem deutschsprachigen Teil der Schweiz, entstanden im 13. Jahrhundert, mit Aufschwung gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die beiden Kämpfer – fast durchwegs Männer, die ersten Frauenschwingvereine wurden erst vor rund 30 Jahren gegründet – fassen dem Gegner mit einer Hand an eine spezielle kurze Überhose (der Sport wird häufig auch „Hosenlupf“ genannt) und versuchen den jeweils anderen zu Boden zu bringen – mit einem von rund 300 Würfen, die alle Namen tragen – der Titel des Stücks von Landholz Productions und Johanna Heusser , von der das Konzept und di Choreografie stammt, hat nichts mit Doktor-Titeln zu tun, sondern ist eine Schweizer Mundartversion von „der“ vor der jeweiligen Wurfbezeichnung.

David Speiser und Julian Voneschen, die beiden Performer in dem nicht ganz einstündigen Stück, führen unzählige der Hosenlupfe aus, fast tänzerisch wirken sie. Dabei habe man sich sehr wohl an die echten Würfe gehalten, so die Choreografin in einem anschließenden Talk über „kritische Männlichkeit(en)“ mit Eric Big Clit (Drag King und Performer*in) und Dorian Bonelli (Performer und Veranstalter „Queer Playfight“). „Wir wollten diesen Sport nicht parodieren oder ihm zynisch begegnen“.

Und trotz der kämpferischen Atmosphäre schwebt weder Aggression, ja nicht einmal Konkurrenz im Raum. Das Fragen, ob alles gut sei, bevor das Ringen beginnt, gehört dazu, die mitunter anklingende Zärtlichkeit ergibt sich vielleicht eher daraus, dass es doch eine Performance und kein Wettkampf ist. Und das Stück beschränkt sich nicht nur auf die „Schwinger“-Szenen. Nach etlichen ersten Würfen wird ein Schulaufsatz über die Menschheitsgeschichte aus 1975 eingesprochen – und da auf Schwyzerdütsch auch mit englischen an die Wände projizierten Untertiteln – mit einem Loblied auf Kämpfe.

Irgendwann unterbrechen die beiden Kampftänzer bzw. tänzerischen Kämpfer das „Schwingen“ und bauen aus Teilen der Unmengen an Sägespänen – eine halbe Tonne ist aufgeschüttet – eine Berg- und Tal-Landschaft durch die sie Theaterrauch wabbern lassen – idyllische Schweiz sozusagen.

Ihr stark körperliches Agieren im „Ring“, ausgehend von klassisch männlichen Klischees bot dann eine ideale Ausgangsbasis für den oben genannten Talk. Das gesamte Festival – nicht nur in seiner vierten Ausgabe – beschäftigt sich ja mit den sozusagen unter die Haut gehenden Fragen verschiedenster Identitäten, der Auseinandersetzung mit Zuschreibungen und dem „Ringen“ um das (Aus-)Brechen von/aus Rollen- und Geschlechter-Klischees.

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Beziehungsmäßige Himmel- und Höllenritte

Leider nur ein einziges Mal zu sehen, nein erleben, war ein weiteres Gastspiel aus der Schweiz beim aktuell – noch bis 18. März 2023 – laufenden Skin #4-Festival: „Pseudologia Phantastica“ von „Les Mémoires d`Helène“. Die nicht ganz zweistündige Show war ein – dem Trio auf der Bühne ebenso wie dem Publikum – offensichtlich Spaß machender Himmel- und Höllen-Ritt zwischen Beruf/Bühne und Privat-Beziehung.

Momo und Ben lernen einander bei einem Festival kennen. Er schon anerkannter, staatlich geprüfter Staatsschauspieler mit Hang zu Exzentrik und Experimental gibt einen Hamlet Globi – für das nicht mit der Schweiz vertraute Publikum wird erklärt, dass es sich bei Globi um einen bekannte – Wikipedia schreibt „die erfolgreichste“ – Kinderbuchfigur handelt – „eine Art Papagei-Mensch“ (Wikipedia). Sie, staatenlose Privatschauspielerin, ergriffen von seiner Performance zittert ihrem eigenen Auftritt entgegen. Von dem er sich sehr berührt zeigt.

Und dann spielen Martina Momo Kunz und Benjamin Spinnler – unterstützt von Live-Musik mit unterschiedlichsten Blech-Blasinstrumenten durch von und mit Victor Hege einen Mix aus Anklängen aus der Wirklichkeit mit fantasievollem Re-enactment. Fotos projiziert via Overhead-Projektoren, was einen Retro-Charme versprüht, zeigen u.a. Reisen in die Mongolei und nach Bolivien, Videos zeugen von echten Auftritten der Stücke „Highlight“ und „Ygdrasil“, die sie auf der Bühne wiederum sehr schräg, fast persiflierend inszenieren.

Verstörende Gewalt

Krasse, beängstigende Brüche stellen sich ein, wenn das Duo über die eigene Beziehung spielt – von überkommenen Geschlechterklischeerollen bis zu Gewalt, unterschiedlichste, ja gegensätzliche Erwartungen in Sachen Kinderwunsch usw. kommen dabei heftigst ins Spiel. Und zeigen, dass selbst im 21. Jahrhundert und unter ach so aufgeschlossenen und offenen Menschen uralte Beziehungsmuster noch lange nicht überwunden sind.

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Aus dem Performance-Parcours

Eine lange, schmale Papierbahn bildet die Spielfläche für Shirin Farshbaf bei ihrer Performance „Metaphor“. Laaaange liegt sie am einen Ende auf dem Rücken, den Kopf und ihre Haare in einer flachen, großen Schale mit Wasser. Am anderen Ende des Weges ein Blumenstock. In Suuuuper-Zeilupe dreht sich die Tanz- und Performance-Künstlerin um die eigene Achse, füllt den Mund mit Wasser, dreht den Kopf in Richtung Blumentopf, schlängelt sich und kriecht genau dort hin. Eeeeeewig lang dauert ihre „Reise“. Es könnten Anklänge an ihren Weg aus dem Iran nach Österreich sein. Es könnte auch die nach Wasser dürstende Pflanze sein, die endlich ein bisschen vom kostbaren Nass abbekommt.

…, aber

Auch sehr bewegend die Performance von Dejan Klement. Er nur in Unterhose auf einem Sessel, grelles Licht. Fast wie in einer argen (filmischen) Verhör-Szene. Hinter ihm kauert ein Kollege. Zu Sätzen – in englischer Sprache – wie „du bist frei, sein zu dürfen, wer du willst“, „ich möchte, dass du glücklich bist“, „so wie du bist, bist du perfekt“… kommt mal schneller dann mit mehr Abstand ein „but“ (aber) und der nächste Strumpf über den Kopf gezogen. Immer schwerer und mühsamer wird das Atmen – „so wie die passiv-aggressiven Aussagen LGBTQIA* Personen im wirklichen Leben das Atmen erschweren“ wollte/will der Künstler damit aufzeigen.

Follow@kiJuKUheinz

INFOS: WAS? WER? WANN? WO?

Dr Churz, dr Schlungg und dr Böös

Landholz Productions, Johanna Heusser (CH)
Tanz/Performance; Ab 14 Jahren; ca. eine Stunde
Im Rahmen von SKIN #4

Konzept, Choreografie: Johanna Heusser
Performer: David Speiser, Julian Voneschen
Licht, Video, Bühne: Marc Vilanova
Dramaturgie: Fiona Schreier
Produktionsleitung: Maxine Devaud, OhLaLa Productions
Kostüme: Diana Ammann
Œil Extérieur (dramaturgische Beratung): Stephan Stock, Selina Beghetto
Wissenschaftliche Beratung: Linus Schöpfer
Schwingtraining: Stefan Aebi
Eine Koproduktion mit dem ROXY Birsfelden

Wann & wo?

15. März 2023
Dschungel Wien: 1070, MuseumsQuartier
Telefon: 01 522 07 20-20
dschungelwien -> dr churz…

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Pseudologia Phantastica

Les Mémoires d`Helène (CH)
Performance; ab 15 Jahren; 2 Stunden
Im Rahmen von SKIN #4
Künstlerische Leitung: Martina Momo Kunz
Text, Co-Regie: Martina Momo Kunz, Benjamin Spinnler, Michael Finger
Spiel: Martina Momo Kunz, Benjamin Spinnler, Victor Hege
Komposition: Victor Hege
Ausstattung: Zainab Lascandri
Sounddesign: Jonas Häni
Lichtdesign: Viktoras Žemeckas a.k.a. Kuka
Video/Diffusion: Claudia Popoviči
Carte Blanche: Felix Felsen Iten

Eine Koproduktion mit dem Fabriktheater Rote Fabrik Zürich, Schlachthaus Theater Bern & ROXY Theater Basel

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Skin #4

Bis 18. März 2023
Im Rahmen von SKIN #4
Dschungel Wien, Foyer und Studioräume vor Bühne 3: 1070, MuseumsQuartier
Telefon: 01 522 07 20-20
dschungelwien – skin #4 Festival