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Szenenfoto aus "Komm her!"

Staunen in einer dunklen, magischen (Unter-)Welt voller Schatten und Licht

Der große Saal im Pförtnerhaus am Ill-Ufer, in dem bei den vorangegangenen Vorstellungen eine große Tribüne stand, ist es an diesem letzten Nachmittag ziemlich dunkel, wenn die Zuschauer:innen hereinkommen. Höchstens mit ein bisschen Licht von dezenten Taschenlampen führen zwei Puppenspieler in schwarzen Overalls die Gäste in ein aus schwarzem Stoff abgehängtes Theaterzelt – nur knapp mehr als 70m² klein – und doch werden sich hier große Welten öffnen. Der Stücktitel „Komm her!“ (im Original Kom hier) wird sozusagen schon live vorweggenommen – oder sinnlich erfahrbar eingeleitet.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Komm her!“

Welt des Staunens

Dieses „Zelt“ beherbergt eine nicht ganz halbrunde Publikumstribüne und gegenüber stehen ein paar, teils filigran wirkende, Objekte, aber auch ein paar recht massive. Hier versetzten Sven Ronsijn und Rupert Defossez vom Ultima Thule aus Gent (Belgien) ihr Publikum immer wieder mit ihrem Puppen- und vor allem Objektspiel immer wieder in fast ungläubiges Staunen mit so manchen „Aaahs“, „Ooohs“ und manchmal auch so etwas wie „Huchs“. Die Grundstory, die sie in der nicht ganz einen Stunde spielen: Zwei Kinder-Figuren – dem Programmheft zufolge Marco und Kubo (im Stück fällt kein Wort und damit auch kein Name) spielen mit einem rot-weiß-gestreiften Ball, irgendwann landet dieser unerreichbar in den Ästen eines winterlichen Baumes ohne Blätter. Nicht nur der Ball – auch die beiden Freunde verlieren sich – aber nur räumlich. In Gedanken und Herzen bleiben sie verbunden.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Komm her!“

3D-Figuren und laser-ge-cuttete Häuser

Zwischen ihnen liegen aber Welten – ober und unter der Erde, von dort raucht es etwa auch durch die Häuser und ihre Rauchfänge raus – mit Hilfe einer kleinen Theater-Nebelmaschine. Letztere ist übrigens das einzige, das die Theaterleute gekauft haben. Alles andere haben sie selber nicht nur ausgedacht, sondern auch entworfen und hergestellt – vor allem tat dies Gestalterin Griet Herssens, die die meisten der bisherigen 200 Vorstellungen von „Komm her!“ auch gespielt hat – gemeinsam mit Rupert Defos. Sven Ronsijn spielte – nach kaum mehr als zwei Tagen Probenzeit – in Feldkirch das erste Mal. Allerdings hat er diese Produktion schon zuvor gecoacht und dramaturgisch begleitet – gemeinsam mit Kobe Chielens.

Inspirationsquelle aus der Literatur

Zu diesen Welten – Häuser und Objekte wie Strommasten, Schiffe, Vögel und vieles mehr aus Karton bzw. Holz per digital gesteuertem Leser ge-cuttet (ausgeschnitten), Skelette und Köpfe der Puppen 3D-gedruckt – ließ sich die Gruppe durch Italo Calvins Kurzgeschichtensammlung „Unsichtbare Städte“ anregen. Ein Abschnitt daraus findet sich auch im pädagogischen Begleitmaterial für Schulen und so manche Bilder entsprechen den Schilderungen Marco Polos über Städte und Gegenden in Kublai Khans Reich, das der Herrscher offenbar nicht selber erkunden konnte oder wollte. Weil der all das, das er in für ihn unverständlichen Sprachen gehörte hatte, nicht in einer für den Kahn wiederum unverständlichen Sprache erzählte, sondern „nicht anders als durch Gesten, Sprünge, Ausrufe der Bewunderung und des Entsetzens, Bellen und andere Tierlaute ausdrückte, oder durch Gegenstände, die er aus seinen Doppelsäcken hervorholte – Straußenfedern, Blasrohre, Quarze –, um sie dann wie Schachfiguren vor sich auszubreiten“, fand der eine Verständigungsebene mit dem Herrscher des Reiches im Osten. „Der Großkhan entzifferte diese Zeichen, doch die Verbindung zwischen ihnen und den besuchten Orten blieb ungewiss: Er wusste nie, ob Marco ein Abenteuer darstellen wollte, das ihm unterwegs widerfahren war, eine Tat des Gründers der betreffenden Stadt, die Weissagung eines Astrologen, ein Bilderrätsel oder eine Charade, um einen Namen zu nennen.“ (Italo Calvino, „Die unsichtbaren Städte“, übersetzt aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, Hanser Verlag).

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Komm her!“ – hier rechts Griet Herssens in Aktion

Vielfältige Szenerie

Das Duo, das fallweise trotz der Dunkelheit auch selber zu sehen ist, aber sich stets im Hintergrund hält – „es geht um die Figuren und Objekte, sie sind im Zentrum, auch wenn sie ohne uns nichts können“ – spielt mit klitzekleinen Objekten, von denen es so manches deutlich größere Ebenbild gibt, ebenso wie mit echt massiven. Beispielsweis betätigt Rupert Defossez mehrmals einen metallenen Kran- samt dreizackigem Greifarm – auch knapp über den Köpfen von Zuschauer:innen.

Natürlich kommen die beiden Freunde am Ende auch wieder physisch zusammen – das darf durchaus verraten werden, wenngleich dazwischen so manch durchaus gruselig anmutendes Abenteuer gespielt wird. Zum Spiel gehört noch Musik (Griet Pauwe) und nicht zuletzt dasjenige mit Licht und Schatten. So kommst du erst nach der Vorstellung, als die Puppenspieler dies erwähnen, drauf, dass die beiden Figuren keine Augen haben – sondern lediglich der Schatten den der obere Teil der beiden Löcher im Gesicht wirft, die Zuschauer:innen (!) Augen sehen lassen, weil sie dies in ihren eigenen Köpfen zusammen-Puzzlen.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Komm her!“

Langer, kreativer Prozess

Rund ein Jahr lang hat die Gruppe an der Entwicklung dieses Stücks gearbeitet, erzählt das Spieler-Duo im anschließenden Gespräch mit dem Publikum. „Was ihr hier auf der Bühne sehen konntet, ist ein Viertel, höchstens ein Drittel von dem was wir gebaut haben. Aber vielleicht können wir das eine oder andere ja einmal bei einem späteren Stück verwenden.“ Auch viele dramaturgischen Ideen wurden verworfen, weil die ausgedachte Szene im weiteren Verlauf nicht schlüssig gewesen wäre. Und so fantasievoll wie sie selber „Komm her!“ erarbeitet haben, so wollen sie im Idealfall, dass auch ihr Publikum nach Hause oder in die Schule geht. Sie verstehen – dem schon erwähnten Begleitmaterial zufolge – ihre Arbeit nicht nur, aber ganz besonders dieses Stückes, als Impuls fürs fantasievolle Weiterspinnen vor allem ihres jungen Publikums.

Szenenfoto aus

Ultima Thule

Nicht von ungefähr nannte sich die Gruppe bei der Gründung (1993 aus einer Fusion des Puppentheaters Joris Jozef und Wannepoe) „Ultima Thule“ (ab 2008 in Gent, davor in Antwerpen), weil dies schon in der Antike der Name eines Ortes war, der die Fantasie anregte. „Dichter, Philosophen und Weltreisende gaben mit Ultima Thule dem nördlichsten Land einen Namen. Die am weitesten entfernte Insel.“ (zitiert aus der Homepage der Gruppe).

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Komm her!“

Auf Wikipedia ist unter dem Begriff auch zu finden: „Am 26. Juli 2008 entdeckte ein Team, bestehend aus Brian Beatty, Friederike Castenow, Heinz und Lindy Fischer, Jörg Teiwes, Ken Zerbst und Peter von Sassen, eine Insel an der Position 83° 41’ 20.7” N, 31° 5’ 28” W. Sie war etwa 100 m lang, äußerst schmal und etwa 5 m hoch. Das Team errichtete einen Steinhaufen… Aus einem 2019 veröffentlichten Artikel von Ole Bennike und Jeff Shea geht hervor, dass seit 2008 offenbar keine Untersuchung der Geisterinseln vor der Küste mehr stattgefunden habe. Sie bewerten die Forschungssituation als mangelhaft, um feste Aussagen zur Beständigkeit der Inseln machen zu können, wofür vor allem genauere Beschreibungen und Untersuchungen von Gestein und Vegetation auf den Inseln nötig wären. Sie halten fest, dass die Inseln nicht dauerhaft an derselben Position liegen können, und vermuten anhand der Beobachtungen aus den letzten Jahrzehnten, dass vermutlich keine der bis 2008 beobachteten Inseln noch existiert.“ Womit der Begriff wieder der Fantasie gehört 😉

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Compliance-Hinweis: KiJuKU wurde von Luaga & Losna zur Berichterstattung nach Feldkirch (Vorarlberg) eingeladen.

Szenenfoto aus "Der bleiche Baron"

Mit widerständigem Witz gegen Allein-Herrschaft

Ambiente und Beginn fast wie ein Märchen – An den Seitenwänden neben dem Publikum im Theater am Lend beim Festival spleen*graz hängen hellblau-weiße Fahnen mit einem Einhorn-Kopf in der Mitte. Flaggen eines Fantasielandes. Die beiden Musiker:innen und Schauspieler:innen Anna Vercamme und Joeri Cnapelinckx von der belgischen Gruppe Kopergietery kommen mit der Faust auf der Stirn, ebenfalls das Fabelwesen symbolisierend.

Doch das „Märchenland“ erweist sich rasch als Dystopie. Alles ist dem unumschränkten, diktatorischen Leiter untergeordnet. Widerspruch mag der ebenso wenig wie Künstler:innen, spezielle Dichter:innen. Die schaffen es, Kritik zwischen den Zeilen zu verstecken und deswegen hat er sie längst alle ausweisen lassen. Keine leichte Ausgangsbedingung für Felka und Felix, wie die von den beiden verkörperten Figuren im Stück „Der bleiche Baron“ heißen. Und als solche bilden sie die „Felka und Felix kleine Widerstand Sing along bing bong“.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Der bleiche Baron“

Sich nützlich zeigen

Zur Tarnung wollen sie was Nützliches für den Leiter machen und laden das Publikum ein, Huldigungslieder für diesen Herrscher einzustudieren – unter anderem dafür, dass er den (größten) Sprechstab habe. Sie verstünden ja, wenn wer dabei nicht mitmachen wolle, aber „da müssen wir jetzt durch“. Selbst das vermitteln die beiden mit einem Augenzwinkern, mit (Selbst-)Ironie – und lassen dabei doch an- und durchklingen, was sich rundum in der Welt abspielt und anbahnt.

Ins All schießen

Felka greift immer wieder absichtlich zu falschen Artikeln für Substantiva, wird von Felix stets verbessert und erklärt, dass sie sich ständig rechtfertigen müsse, „nicht von hier“ zu sein. Sie sei von nirgends und überall aber jetzt eben einmal da. Und trotz der drohenden Gefahr an Leiters Geburtstag, wo er 1000 neue Sterne in den Himmel schießen will. Und Unliebsame Menschen gleich mit dazu – Regime-Gegner:innen oder Fremde. Ihr Kompagnon Felix drängt auf Zusammenpacken und Abhauen ehe es zu spät ist. Sie hat es satt. So oft musste sie schon flüchten. Jetzt ist es genug, aber er könne ruhig gehen.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Der bleiche Baron“

Multi-Instrumentalist:innen

Wie die Geschichte selber weitergeht? Nein, gespoilert wird nicht. Verraten hingegen sei schon, dass Anna Vercammen (Felka) Saxophon, Trompete und Klavier und ihr Kollege Joeri Cnapelinckx (Felix) Klavier, Schlagzeug und E-Gitarre spielt.

Humor will Härte erträglich machen

Wirkt die vom Leiter erwünschte und verlangte Huldigung noch lächerlich, so wird es nach und nach ernst und ernster – in der Sache, im musikalischen und Schau-Spiel der beiden bleibt es humorvoll, wenngleich mitunter sarkastisch – mit Anmutungen von subversiver, kritischer Satire im Untergrund. Getragen von einer gewissen Leichtigkeit, die offenbar die Schwere der Bedrohung erträglich machen will/soll. Zumindest für Zuschauer:innen, die nicht akut in einer ähnlichen Lage sind oder Verwandte und Freund:innen in einer solchen haben.

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Compliance-Hinweis: Das Festival spleen*graz hat Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr … für drei Tage zur Berichterstattung nach Graz eingeladen.

Besprechung von Stücken, die beim 10. spleen*graz gezeigt werden, KiJuKU aber schon davor andernorts gesehen hat

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Der bleiche Baron“
Szenenfoto aus "Tiébélé"

Live-Musik, Gesang, Malerei führen in den Süden von Burkina Faso

Zwei Frauen, drei Schüssel, ein großer Kreis auf der Bühne, ein wenig im Hintergrund stehen durchsichtige Kunststoffplatten auf rollbaren Metallgestellen. Aus dem Off kommt Gesang in einer melodiösen afrikanischen Sprache – es ist nicht das in Burkina Faso weit verbreitete Mòoré (Sprache der Mossi), sondern Tiébélé. Das Stück „Tiébélé“ der Gruppe Le Théâtre de la Guimbarde (Regie: Gaëtane Reginster) aus Belgien führt das Publikum in diesen westafrikanischen Staat, genauer ins Titel-gebende Dorf in Kassena, einer Region im Grenzgebiet zum südlichen Nachbarland Ghana – rund 250.000 Menschen, fast gleich aufgeteilt auf die beiden Staaten.

Musik, Gesang, Malerei

Vier Mal spielte die Gruppe beim aktuell laufenden Kinder- und Jugendtheaterfestival spleen*graz in der steirischen Landeshauptstadt. Auf der Bühne des KNOPFtheaters im Kindermuseum #frida & freD spielt die großgewachsene Bérénice De Clercq eine N‘goni – ein Saiteninstrument mit dem Klangkörper eines ausgehöhlten Kürbisses (Musikalisches Arrangement: Zouratié Koné). Ihre Bühnenkollegin Nadège Ouédraogo nimmt die scheinbar leere Schüssel – und siehe da, sie holt daraus so etwas wie Sand hervor, bläst ein bisschen davon in die Luft – eine Staubwolke fliegt über die Bühne. Sie dreht die Schüssel um und spielt mit dem, was sich als feiner Lehm-Sand herausstellen wird, taucht die Hände ein wenig in eine zweite Schüssel – mit Wasser, beginnt ein bisschen zu gatschen, scheinbar herumzu „kritzeln“ mit Lehmsand und Wasser, holt schließlich aus der dritten hölzernen Schüssel in Farbe getauchte Schwämme.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Tiébélé“

Fast in sich versunken wie ein kleines Kind – wären da nicht immer wieder die gemeinsamen Gesänge mit der Kollegin – und natürlich Blicke ins Publikum. Und alles nicht auch „nur“ Vorbereitung dafür, dass die beiden Frauen eine der oben schon erwähnten durchsichtigen, unterschiedlich geformten, Kunststoffwände (Bühnenbild: Laurence Jeanne Grosfils) nach vor in die Mitte des Kreises geschoben, bemalen. Flächige, kreisig, in wilden Handbewegungen, dann wieder klein, zart, exakt Farbe wegkratzen – womit sozusagen Fenster in der Farbfläche entstehen…

Aus der Wirklichkeit „ausgeborgt“

Dieses Spiel ist der Wirklichkeit in der genannten Gegend zwischen den beiden Ländern nachempfunden. Jedes Jahr malen Frauen aller Generationen gemeinsam die Hauswände neu an – flächig und darauf meist geometrische Muster. Sie singen dabei und erzählen Geschichten und Geschichte aus ihrer Kultur und geben sie so von Alten an die Jungen weiter. Unterstützung holten sich die belgischen Künstler:innen für dieses Projekt von Laure Guiré und der Wéléni-Vereinigung in Burkina Faso.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Tiébélé“

Die fünf bemalten Wände ergeben nun eine Häuserzeile im Hintergrund – und werden noch weiter, dieses Mal digital, bemalt – Video-Animation: Mathieu Georis, bis der ebenfalls virtuelle Regen alles überdeckt.

Der poetische, verspielte Mix aus Live-Musik, Gesang und Malerei verzaubert – und bringt so „nebenbei“ eine den meisten Besucher:innen unbekannte Welt näher. Und passt wunderbar zu vielen weiteren (sehr) verspielten Programmpunkten bei diesem Jubiläumsfestival – das alle zwei Jahre über die Bühnen – und immer mehr auch Outdoor gehende „spleen*graz“ findet nun zum zehnten Mal statt.

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Compliance-Hinweis: Das Festival spleen*graz hat Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr … für drei Tage zur Berichterstattung nach Graz eingeladen.

Besprechung von Stücken, die beim 10. spleen*graz gezeigt werden, KiJuKU aber schon davor andernorts gesehen hat

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Tiébélé“
Alle können zu bösen Wölfen werden - nachgestellte Szene aus dem Stück "Hannah Arendt auf der Bühne" von Theater Agora Belgien) beim Gastspiel im Parlametn (Wien)

Das Ende kann ein neuer Anfang sein – ständiger Kampf um Demokratie

Vorwiegend grau gekleidet, Bühne und Saal düster bis dunkel. Schauspieler:innen und Musiker wandern vor drei verschiebbaren, durchscheinenden Elementen kreuz und quer, besprechen, diskutieren, wer wen spielen soll / darf. Wie das mit dem Wolfsgeheul ist. Ob das so kommen soll, dass sich die Zuschauer:innen fürchten oder gar, dass sie bitten, das Heulen zu wiederholen…

Ein etwas ungewöhnlicher Einstieg für das folgende Theaterstück. Natürlich war von Anfang an klar, wer wen spielt, aber so manche Überlegungen bei der Entstehung eines Stückes wurden dabei transparent. Warum sollte nicht auch ein Mann (Roland Schumacher) eine Frau spielen, oder ist die Jugend der Schauspielerin (Ninon Perez) vielleicht sogar ein Hindernis, die junge Hannah zu spielen – weil sie dann weniger spielt als in der Tat noch (fast) ein Mädchen ist?

Das Theater Agora aus der Region der deutschsprachigen Minderheit in Belgien spielte „Hannah Arendt auf der Bühne“ für vor allem Jugendliche des anderntags folgenden Lehrlingsparlaments.

Illustriertes Buch als Basis

Basis für das Stück war/ist das gleichnamige bebilderte Buch von Marion Muller-Colard (Text, deutschsprachige Übersetzung aus dem französischen Original: Thomas Laugstien) und Clémence Pollet (Illustration) – Buchbesprechung am Ende dieses Absatzes verlinkt.

Am letzten Tag im Leben der kritischen Philosophin und Politikwissenschafterin (4. Dezember 1975 in New York) lassen Buch – und Stück – ein junges Mädchen namens Hannah auftauchen. Im philosophischen Diskurs zwischen den beiden und den Szenen, die sie spielen nachdem sie auf eine Theaterbühne gegangen sind, wird Hanna Arendts (gespielt von Karen Bentfeld) Denken – und Handeln, das ihr genauso wichtig war – sicht- und spürbar – Stück-Idee: Sascha Walters, Text: Ania Michaelis, die auch Regie führte, und Felix Ensslin.

Große und kleine Hannah und dem Fuchs als Symbol für jene, die sich zurückziehn und nicht einmischen wollen
Große und kleine Hannah und dem Fuchs als Symbol für jene, die sich zurückziehn und nicht einmischen wollen

Warum nur Männer auf der Agora?

Was das Theaterstück mehr bietet als das Buch ist einerseits das Live-Erlebnis samt wunderbar eingebauter Musik (Wellington Barros), die Teil des Geschehens wird, indem sie Stimmungen und Atmosphären nicht nur unter„malt“, sondern oft auch erst erzeugt. Und andererseits Ergänzungen, die die erzählte/gespielte Geschichte gegenüber dem Buch erweitern. Zunächst einmal fragt das Mädchen Hannah das Selbstverständlichste: Was ist auf der griechischen Agora mit den Frauen und den Kindern, wieso fehlen sie, warum reden und entscheiden nur Männer?

Alle können Wölfe werden

In dem Theaterstück von Agora – nicht in jenem im Buch – werden übrigens in einer Szene alle Spieler:innen zu Wölfen, stülpen sich die entsprechenden Masken (Céline Leuchter, die auch für Szenografie und Live-Technik zuständig ist und zeitweise mitspielt) über die Köpfe. Das könnte als Anspielung an den Gedanken gesehen werden, dass durchaus jede und jeder zur/zum Bösen werden könnte. Auch mit feinem Anzug und sogar vordergründig gesittetem Benehmen können Feinde der Demokratie ins Herz derselben stoßen – insofern auch ein sehr aktuelles Stück.

Als – nach dem Krieg – angeklagte Wölfe bringen sie eine Vielzahl von Ausflüchten, einige mehr als im Buch, alle aber laufen darauf hinaus, „nur“ den Befehlen von oben gehorcht zu haben, eigenständiges Denken oder gar Handeln – keine Spur.

Es war/ist mehr möglich

Keine Spur? Erfreulicherweise wird aber auch von Roland Schumacher ein Gegenbeispiel erzählt. Mit den Worten „ich steige hier aus“, schlüpft er aus seiner Rolle und schildert den Fall, dass ein Einwohner in der Gegend, aus der er selber kommt, in der Nazizeit einerseits Mitglied der mit den Nazis verbündeten „heimattreuen Front“ war, aber andererseits ein jüdisches Kind gerettet hat. Ein Beispiel dafür, dass der Sager davon, man hätte nicht anders handeln können, eine Ausrede ist – anderes Handeln war doch möglich – auch wenn es riskant bis lebensgefährlich war.

Demokratie immer wieder erkämpfen

Mit den genannten und noch vielen weiteren Szenen – nicht zuletzt um/mit dem Kuscheltier-Fuchs – dreht sich Stück (wie Buch) um Hanna Arendts ständige Auseinandersetzung mit Tendenzen und Ausprägungen von autoritären Strukturen, diktatorischer Herrschaft und dem Gegensatz dazu, dem erforderlichen ständigen Kampf um Demokratie, Diskussion. Nicht zuletzt auch mit sich selbst:
Große Hannah: „Ich bin nicht immer meiner Meinung.“
Kleine Hannah: „Aber – du bist doch du!“
Große Hannah: „Ja, und ich bin die geworden, die ich bin.“

Und noch lange nicht am Ende. Auch wenn ihr Leben an diesem 4. Dezember 1975 endete – sie lebt weiter – in ihren Schriften, Gedanken, die von anderen weitergetragen wurden und werden, nicht zuletzt der „kleinen“ Hannah – und dem Palindrom dieses Namens. „Ein Vorname, den man von links nach rechts und von rechts nach links lesen kann. Wenn ihr wieder angekommen seid beim ersten H, könnt ihr wieder anfangen zu lesen bis zum letzten H. Und so weiter, bis ihr nicht mehr wisst, ob nicht das Ende ein neuer Anfang ist.“

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Fürs Publikum suboptimal

Technisch vielleicht der optimale Raum im Parlament, ist er doch fürs Publikum nicht ideal, weil es keine Tribüne gibt und die Zuschauer:innen in den hinteren Reihen manches nicht gut sehen konnten/können. Auch das – und offenbar kam Vorbereitung – sorgten für doch einigermaßen Unruhe. Gebannt und konzentriert wurde es in jener Szene, als neu Wolfs-Herrscher die anderen autoritär zu „Juden!“ erklärten und sie damit sozusagen zum Abschuss freigaben.

Elise Richter

Die Bühne war aufgebaut im „Lokal 2“, einem Veranstaltungssaal im Parlament, das nach Elise Richter (1865 – 1943) benannt ist. Sie war die erste Frau, die sich an der Universität Wien zur Uni-Professorin habilitiert hatte. Die Unterstützerin der österreichischen Version der Diktatur (Austrofaschismus) wurde als Jüdin gemeinsam mit ihrer Schwester von den Nazis 1942 ins Ghetto Theresienstadt (eine Form der Nazi-Konzentrationslager) zwangsverschickt, wo sie im Jahr darauf zu Tode kam.

Käthe Sasso

Übrigens: Die Aufführung fand zufällig an jenem Tag statt, an dem bekannt wurde, dass am Vortag die bekannte österreichische Widerstandskämpferin Käthe Sasso (geborene Smudits) im Alter von 98 Jahren gestorben war. Smudits wurde als 16-Jährige von der Gestapo (Geheime StaatsPolizei) der Nazis erstmals gefangen genommen, landete später im Konzentrationslager Ravensbrück und überlebte den „Todesmarsch“ in ein weiteres KZ (Bergen-Belsen) knapp vor Ende der faschistischen Diktatur und des zweiten Weltkrieges. Als Zeitzeugin trat sie unermüdlich in Schulen und Diskussionen mit Jugendlichen auf.

Follow@kiJuKUheinz