Zum vierten und nun abschließenden Mal lässt sich das Theaterkollektiv „Spitzwegerich“ wie schon bei den vorangegangenen vom jeweiligen Raum zu den Geschichten und Szenen inspirieren. (Gehäuse) nannte/nennt sich die Serie. Waren’s im ersten „Gehäuse“, einer ehemaligen Parfümerie Gerüche, später in einer einstigen Hand-Web-Teppich-Produktionsstätte Arbeit und „Verweben“, beim „Hin & weg“-Festival in Litschau (NÖ) Graben und Wasser, so wird’s dieses Mal „goldig“ einer- und sozusagen „unterweltlerisch“ andererseits.
„(Gehäuse): Aurum“ (lateinisch für Gold) spielt sich in der Spielstätte Petersplatz von „Theater am Werk“ ab (es gibt auch das in Meidling, am Gelände des ehemaligen Kabelwerks). An der vorvorigen Jahrhundertwende – vom 19. zum 20. – beherbergten die heutigen Theaterräume, in denen davor ein Jazzklub war, ein „Vergnügungs-Etablissement“ mit dem Titel Eldorado (El Dorado aus dem Spanischen: Der Goldene). Neben jungen „Nixen“ eines Nachtclubs boten die Besitzer offenbar auch einige menschliche Attraktionen an, wie sie auf Jahrmärkten gang und gäbe waren, sozusagen Menschen-Zoos, hier „kleinster Mann“ und Frau mit den längsten Haaren der Welt.
Bei der Recherche zu dem Ort stießen die Theaterleute als einzige Quelle auf Zeitungsinserate, in denen genau die beiden letztgenannten auftraten. Den „kleinsten Mann“ lässt hier die Figurenbauerin und -spielerin Rebekah Wild schon vor Beginn des Stationentheaters im Foyer immer wieder – in einer Bauchladenbühne – auftreten. Perfekt stolziert das Püppchen gesteuert von ihren Händen in dieser Manege. Gegen Ende der gesamten Performance (ca. 70 Minuten) im komplett umgebauten großen Theaterraum führt Rebekah Wild den Kleinen an der Oberkante einer Wand mal gehend, mal laufend, mal den Kopf verlierend derart gekonnt, dass selbst aus dem entferntesten Winkel jede einzelne Bewegung rund und gut sichtbar zu erkennen ist.
Emmy Steiner schlüpft unter eine 1,80 Meter lange grüne Perücke – mit Stock von der Schulter aus in die Höhe gehalten, um die genannte Attraktion in verschiedenen der Stationen zu spielen. Am Ende hat sie darüber noch eine zweite solche Perücke, die Simon Dietersdorfer in der Schlussszene übergestülpt kriegt, wo sich beide in „Pools“ als Wasserfrau und-mann niederlassen.
Denn einen solchen, noch dazu riesigen, Pool soll es hier im „goldenen“ Vergnügungstempel – den Anzeigen nach – gegeben haben. Er ist aber auch eine Erinnerung an (Gehäuse) 3 und den See in Litschau. Von wo „Spitzwegerich“ eine riesige Wassermann/frau-Puppe, die nur von drei bzw. vier Leuten an Stäben schwebend bewegt werden kann, hierher gebracht haben. Denn diese letzte Etappe ist auch als Vereinigung der vorherigen gedacht (Text: Franziska Füchsl, Natascha Gangl, Max Höfler; Choreographie: Martina Rösler, Emmy Steiner; Dramaturgie: Birgit Kellner, Alexandra Millner).
Während die letzte Station – an diesem Abend – wie schon erwähnt als einzige für alle gemeinsam im großen Saal stattfindet, steigen die anderen in Nebenräumen, Garderobe, Werkstatt, Bar bzw. eine gar im Keller. Roh und unbehauene Ziegelwände, im Hintergrund eine fast „zerbröselnde“ metallene Wendeltreppe, in einer Ecke hängt dafür eine Disco-Kugel. Davor heizt der Eldorado-Co-Besitzer und vormalige Blutwurstverkäufer Johann Bistricky (Simon Dietersdorfer) als DJ ein.
Ein besonderes Erlebnis ist unter anderem die wandelnde Riesenklarinette (Reminiszenz an den Jazzclub von Fatty George alias Franz Georg Pressler), in der Lisa Furtner steckt. Für bitterbösen Humor sorgt ein „Gehirn“, das sich in eine Art sprechenden Wurm verwandelt und später irgendwie ferngesteuert – oder aufgezogen (?) – über den Boden düst – „künstliche Intelligenz“? Die menschlichen Gegenübers in der „Hirn“-Szene sind die Frau mit den langen Haaren und jene mit der Taucherkugel um den Kopf (Flora Valentina Besenbäck, die mit Felix Huber, Birgit Kellner, Christian Schlechter und Rebekah Wild auch für die aufwendige Ausstattung der Produktion zuständig ist).
Die Performances in den verschiedenen Räumen werden immer wieder von Musik begleitet, untermalt (Komposition und Live-Musik: Simon Dietersdorfer, Manfred Engelmayr, Anna Clare Hauf). Nicht nur hörens- sondern vor allem sehenswert, wie „Fredl“ (Engelmyer) die E-Gitarre mit einem Feder-Wedel spielt oder später aus ihr ein Schlaginstrument macht.
Ein vergnüglicher „goldiger“ Abend mit echten – und auch fiktiven – Einblicken in die Geschichte dieses heutigen Theaterorts.
Wundersam und immer wieder auch sonderbare Welten sind es, in die das Trio auf der Bühne das Publikum eintauchen lässt – mit ihnen. Manches Mal gemeinsam, dann wieder getrennt agieren Didem Kris, Berk Kristal und Defne Uluer spielend, tanzend, (poesie- bis hin und wieder geheimnis-)voll redend auf der Bühne – vor und in projizierten Hintergründen. Die kommen live von kleinen Modellen, die via Handy-Kamera gefilmt und eingeblendet werden (Bühne: Markus Liszt, Flo Botka, Michi Liszt). Und reichen von einem fast unheimlichen Wald mit lebendig werdenden Wurzelwesen bis zu einer Gemeinschafts-Latrine (Toilette mit Loch im Boden).
Sie alle tauchen ein in Träume, treffen verwundert aufeinander, pendeln zwischen Traum und Wirklichkeit – somit zwischen Eintauchen in unkontrollierbare Welten und der (nachträglichen) Betrachtung von außen. Das Geschehen wechselt auch zwischen alltäglichen Verrichtungen (Klo-Gang) und philosophischen Betrachtungen über ihr Leben sowie das Dasein im Allgemeinen.
Zu Beginn sitzen sie wartend auf einer Bank – Zuggeräusche donnern an aller Ohren vorbei. Wohin führt die Reise. Defne Uluer mit einem Buch in Händen, Didem Kris mit einem grauen Bündel, das sich später irgendwie als Stein entpuppt, sozusagen ein weibliches Gegenstück zu Sisyphos, der in der griechischen Mythologie einen Stein immer bergauf rollt, der ihm knapp vor dem Gipfel entkommt und nach unten kullert. Berk Kristal eher entspannt und ohne Gepäck.
In ihren Bewegungen und Monologen bzw. Gesprächen (Deutsch, Englisch, Türkisch) werden die drei Künstler:innen von Musik begleitet (Komposition: Uwe Felchle). Da das genannte Trio, von dem die ersten beiden „Out Loud“, das noch bis 25. Oktober 2023 im Theater am Werk/Petersplatz zu erleben ist, die Performance auch selber entwickelt hat, sorgten für die Sicht von außen und die Dramaturgie Aslı Kışlal und Anna Schober.
Eine dichte, immer wieder überraschende einstündige Performance, die häufig auch Assoziationen zu eigenen Träumen auszulösen vermag. Und vor allem gegen Ende für Verblüffung sorgt, sie sich Didem Kris zu einer Art Paket selber verschnüren kann – um dann von ihren Kolleg:innen auf dem Silbertablett serviert zu werden.
„Alle checken alles, nur du nix!“ – das war Nummer 3 auf der 55-teiligen Horror-Liste, aus der Barbi Marković beim Kultursommer im Vorjahr las – mehr dazu im Link am Ende dieses Beitrages. In der Zwischenzeit hat sie ihren dritten Roman „Minihorror“ (nach „Superheldinnen“ und „Die verschissene Zeit“) veröffentlicht– übrigens mit einer weit längeren, anderen Horror-Liste im Anhang. Schon am Vorabend der Bucherscheinung startete eine Bühnenversion von diverCITYLAB im Theater am Werk-Meidling.
Mini – so heißt eine der Hauptfiguren im jüngsten Marković-Kosmos. Sie, aus Serbien, und Miki, aus Oberösterreich, sind ein Paar. Mit alltäglichen kleinen Katastrophen, die sich nicht selten zu fast selbst- und einander zerfleischendem Horror auswachsen. Und wie die Autorin es in praktisch all ihren Texten anlegt, immer mit einem kräftigen Schuss schrägem Humor und (Selbst-)Ironie.
Ob beim Einkaufen, dem Streit darüber, dass die eine von dem anderen und umgekehrt, zu wenig über deren/dessen Familie erzählt bis zum versuchten Eintauchen in diese Welt des/der anderen oder beim (vergeblichen?) Warten auf die Lieferung einer neuen Küchenplatte… Was sind schon die großen Weltsorgen gegen den Horror, sich möglichst „normal“ einzurichten und dann an allen Ecken und Enden gegen Hindernisse und Beziehungsprobleme zu rennen – und das in einer bitterbösen Form in der das Publikum sehr viel darüber lachen kann; nicht zuletzt deswegen, weil es so manches aus eigenem Erleben kennt. Samt der mehrfach ventilierten Frage, „lebe ich eigentlich noch wirklich?“ inklusive auf die Schaufel nehmen eines darauf Bezug nehmenden Werbespruchs.
diverCITYLAB-Gründerin Aslı Kışlal hat den Ton der Autorin aufgenommen, so manche Sätze auch selber erfunden. Und in der Inszenierung den Gag aus den zwei I-Punkten im Titel-Schriftzug des Buches aufgenommen: Mini und Miki treten mit den weltbekannten großen runden schwarzen Ohren sowie ebensolchen Clown-Nasen (Kostüm: Nadine Cobbina) auf. Womit ihnen gleich vom ersten Moment an eine zusätzliche schräge Dimension verliehen wird.
Dennis Cubic, Deborah Gzesh, Isabella Händler, Jonas Kling, Kari Rakkola und Violetta Zupančič sind alle abwechselnd, durcheinandergewürfelt mal die eine, dann die andere Hauptfigur. Mitunter schlüpfen sie – mit ein wenig anderer Verkleidung – auch in Nebenrollen, etwa Minis Großmutter (Kari Rakkola) in einer sarkastischen Szene in der Mini mit unzähligen Verwandtem auf engstem Raum leben muss, aus dem sich nach und nach einige durch Wegziehen, andere durch Tod entfernen, bis das Trio Mini, Mutter und Oma überbleibt…
Die schräge Szenerie wird durch Live-Musiker und fallweise auch Sänger Uwe Felchle zu einer witzigen Show abgerundet, mit einigen Momenten in denen auch Bühnenelemente (Bühne und Requisite: Markus Liszt, Je.Jesch, Michi Liszt) für Überraschung sorgen.
Jennifer, Minis Cousine und „fleischfressendes Monster“, aus dem Roman von Barbi Marković taucht in der Inszenierung als furchteinflößendes animiertes Schattenmonster an den Wänden auf – samt Interaktionen mit Schauspieler:innen.