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Szenenfoto aus "Fräulein Smillas Gespür für Schnee"
Szenenfoto aus "Fräulein Smillas Gespür für Schnee"
16.10.2022

Gespür für weit mehr als Schnee ;)

„Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ in einer sehr dichten, berührenden Fassung im Theater Spielraum (Wien). Zusatzvorstellungen Anfang Dezember.

Von der Decke hängen – weiß-silbrig glitzernde Schneesterne – im Gegensatz zu echten Schneeflocken alle ganz gleich. Und in der Form wie sie in bunter Version als Kinder-Zusammensteckspiel bekannt sind. Diese Funktion werden ihnen die Schauspieler:innen, vor allem die Darstellerin von „Fräulein Smila“, immer wieder geben. Eine stilisierte Eiswand im Hintergrund und mitten auf der Bühne im hinteren Drittel eine kleine – weitgehend mit einer Folie bedeckt – „Leiche“. Das ruft kalte Schauer über den Rücken hervor. Erinnert ein wenig an den gestrandeten Alan Kurdi, den zweijährigen kurdisch-syrischen Buben, dessen Leiche bei Bodrum (Türkei) an den Strand geschwemmt worden ist (2015).

Hier ist es der Bub Jesaja, der Sohn von Smillas alkoholkranker Nachbarin (und nicht wie irrtümlich hier vorher stand, ihr eigener. Sie selbst lehnt Kinder heftig ab.). Tot nach einem Sturz vom Dach in Kopenhagen. Doch weder Unfall noch Selbstmord. Das sieht – im Gegensatz zur Polizei – die toughe Hauptfigur des Stückes nach dem gleichnamigen Roman von Peter Høeg aus Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts – mit ihrem „Gespür für Schnee“.

Aput, qanik, genderfluid

Seine Spuren im „aput“ – eine der wenigen Abweichungen vom Originaltext wo „qanik“ verwendet wird – zeigen der geborenen und im Osten Grönlands aufgewachsenen Angehörigen der Inuit, der Bub muss auf dem Dach des Hauses vor jemandem davongelaufen sein. Außerdem hatte er Höhenangst, wäre also nie freiwillig auf das Dach des für ihn sehr hohen Hauses raufgestiegen. Schon der Autor hat in den Kriminalfall viel Sozial- und Gesellschaftskritisches, aber auch so manch Einblick in Leben und Kultur der indigenen Bewohner:innen Grönlands organisch eingepackt. Unter anderem in Kürzestfassung deren Welt-Entstehungs-Mythos, dass „die Welt am Anfang nur von zwei Männern bewohnt gewesen sei, die beide große Zauberer waren. Da sie gern zahlreicher werden wollten, habe der eine seinen Körper so umgemodelt, dass er gebären konnte; und danach hätten die beiden viele Kinder gezeugt.“ Ganz schön woke 😉

Gemeinsam erarbeitet

In der knapp 1 ¼ stündigen Theaterversion, die derzeit im Wiener Theater Spielraum läuft, stehen sowohl soziale als auch ethnische Diskriminierung Jesajas und Smillas samt Ignoranz der Behörden – es war ja „nur“ ein Inuit-Bub – im Zentrum – aber nie aufgesetzt, sondern wunderbar und berührend ins gesamte Schauspiel eingebaut. Regisseurin und Co-Leiterin des Theaters Spielraum, Nicole Metzger, hat die Fassung in enger demokratischer Zusammenarbeit mit dem Schauspieltrio – Christine Tielkes (Smilla Jaspersen), Lara Bumbacher und Samuel Schwarzmann, die jeweils in ein halbes Dutzend Rollen schlüpfen – erarbeitet.

Schauspiel + Bühne + Kostüme

Neben der schauspielerischen Leistung des Trios, die sowohl Kälte als auch Leidenschaft, Widerstand und Kampf ebenso wie Abweisung und Ignoranz sehr glaubhaft vermitteln, runden die ideal passenden Kostüme und die Bühnenelemente den Abend ab. Die – nach und nach von der Decke gepflückten – Schneesterne werden mit den zwischen den 14 schneeweißen Würfeln (die federleicht zu immer anderen Ambientes umgebaut werden) auf dem Boden liegenden vor allem von Smilla-Darstellerin Tielkes zu fast tierischen Gebilden zusammengebaut. Mit jedem neuen Erkenntnisschritt baut sie. Zuletzt eine Art Gruft über der „Leiche“ Jesajas, die übrigens eine Spiderman-Mütze trägt. Sein Held, um die eigene Höhenangst zu überwinden.

Message-T-Shirts

Die Rollenwechsel von Bumbacher und Schwarzmann werden optisch mit passenden T-Shirts begleitet – Polizist bzw. Polizistin eh kloar, aber auch ein bisschen more sophisticated, wenn der Mechaniker, der Smilla bei ihren Ermittlungen unterstützt, „Dive hard“ auf seinem Leiber stehen hat oder beide ein überdimensional breites überziehen, auf dem eine alte Audio-Kassette abgebildet ist. Eine solche haben offenbar jene, die Jesaja verfolgt haben, gesucht. Er war mit seinem Vater auf einer Expedition, bei der dieser ums Leben gekommen ist.

Apropos T-Shirts: Zu Beginn und am Ende sind die drei Schauspieler:innen in schwarzen T-Shirts zu sehen mit dem weißen Schriftzug: „Sei immer du selbst, außer du spielst“ – und auf dem Rücken dem Wort „Theater“. Bei der Premiere verbeugten sich die Regisseurin und die Kostüm- und Bühnenbildnerin in weiteren programmatischen T-Shirts. Letztere mit dem Schriftzug „Das ist mein Kostüm Ende der Diskussion“, erstere mit einem kleinen aufgedruckten Eisbären und in verschiedenen Schriftarten „Das ist mein Menschenkostüme. In echt bin ich ein Eisbär“. Klimawandel, bedrohtes Eis und seine Schmelze schwingen im Roman und im Stück unterschwellig und doch immer wieder mit.

Doch nicht so viele Schnee-Wörter

Noch ein paar Worte zu bereits oben genannten Schnee-Wörtern aus Inuktit, der Sprache der Inuit (was übrigens Menschen bedeutet; Einzahl: Inuk): Dem wie immer äußerst umfangreichen mit vielen Hintergrundinformationen versehenen Programmheft des Theaters Spielraum ist zu entnehmen, dass die häufig verbreitete Geschichte, dass die Inuit Dutzende Wörter für Schnee haben, ein Fake ist. Neben den beiden qanik und aput gibt es kaum weitere. Der Mythos geht darauf zurück, dass in dieser Sprache – wie auch in anderen – Wortbildungen anders erfolgen und Beschreibungen, die wir in Beiwörter oder Relativsätze fassen, an das jeweilige Wort angehängt werden, zitiert das Programmheft den Hamburger Linguistik-professor Anatol Stefanowitsch.

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INFOS: WAS? WER? WANN? WO?

Fräulein Smillas Gespür für Schnee

nach dem Roman von Peter Høeg
Theaterfassung von Armin Petras und Juliane Koepp
Für das Theater Spielraum bearbeitet von Nicole Metzger & Ensemble

Smilla Jaspersen: Christine Tielkes
Jesaja/ Mutter/ Dr. Lagermann/ Elsa Lübing/ Übersetzerin/ Polizistin: Lara Bumbacher
Mechaniker/ Dr. Loyen/ Vater/ Übersetzer/ Polizist: Samuel Schwarzmann

Regie: Nicole Metzger
Bühne und Kostüm: Anna Pollack
Licht: Tom Barcal
Abendtechnik: Daniel Leitner

Aufführungsrechte: Drei Masken Verlag München

Wann & wo?

1.- 3. Dezember 2022
Theater Spielraum: 1070, Kaiserstraße 46
Telefon: 01 713 04 60
office@theaterspielraum.at
theaterspielraum -> aktuelles-programm