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Kundgebung gegen die Einschränkung des Rechts auf Bildung für Frauen in Afghanistan
Kundgebung gegen die Einschränkung des Rechts auf Bildung für Frauen in Afghanistan
25.04.2023

Doppelte Diskriminierung, Verfolgung bis zum Völkermord

Erst mit der seit Herbst laufenden Kampagne #StopHazaraGenocide bekennen sich – außerhalb Afghanistans – mehr Menschen zu ihrer Volksgruppe.

„Heute zelebrieren wir 60 Absolvent:innen, mit einem beachtlichen Frauenanteil von 60%. IGASUS (Interessengemeinschaft der afghanischen Schüler:innen und Studierenden) ist 2015 mit der Vision gegründet worden, um genau diese Talente und Köpfe für den Fortschritt der Gemeinschaft zu bündeln, eine Plattform zu bilden, die den Raum für einen konstruktiven, kritischen und sachlichen Austausch schafft, in dem wir Fehler machen, aus ihnen und voneinander lernen, und gemeinsam wachsen.

Der Weg zu den Erfolgen war gewiss nicht ein einfacher! Um am jetzigen Punkt aufrecht zu stehen, haben wir viele Hürden überwunden, vor allem politische“, sagte Vorstands- und Gründungsmitglied Mojtaba R. Tavakoli vor rund einem halben Jahr bei der jüngsten Absolvent:innenfeier der afghanischen Community in Österreich.

Integration durch Bildung

Er, der vor rund zehn Jahren als Jugendlicher allein mit seiner Schwester aus Afghanistan geflüchtet war, ist längst Akademiker, PhD-Kandidat am IST (Institute of Science and Technology), der Exzellenz-Uni in Klosterneuburg bei Wien und trägt sich mit Plänen, an eine renommierte US-Universität zu wechseln. Tavakoli ist Integrationsfigur in der Community, aber auch darüber hinaus und (Mit-)Motor der genannten Organisation. Diese setzt auf „Integration durch Bildung“ – sowohl in die eigene Gemeinschaft hinein, will aber auch in die Mehrheitsgesellschaft hinaus wirken. Seine Schwester Sohela ist übrigens Co-Geschäftsführerin eines Wiener Gastro-Betriebes und nicht die Einzige, die unternehmerisch selbstständig in führenden Funktionen tätig ist.

Gewinn für alle

Der Redner wies – nicht zuletzt – auf die (mögliche) gewinnbringende Mitwirkung von Austro-Afghan:innen für die heimische Gesellschaft und Wirtschaft hin. Aber auch auf die immer wieder erlebte Diskriminierung von Menschen, die aus Afghanistan geflüchtet sind. Selbst, wo die Mehrheitsgesellschaft doch mitkriegen musste, was seit rund 1 ¾ Jahren verschärft in seinem ersten, vermissten Heimatland abläuft. Erst knapp vor Jahresende gingen durch praktisch alle Medien der Welt die Nachrichten, dass Frauen gar nicht mehr an Universitäten studieren dürften, der komplette Ausschluss aus Bildungseinrichtungen, auch schon aus Schulen droht (wieder).

Doppelte Diskriminierung

Obwohl Mojtaba aus Afghanistan flüchten musste, „nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass wir Angehörige der Hazara sind, einer Minderheit, die seit Jahrhunderten verfolgt werden, wurde mir erst im Herbst mit der Kampagne #StopHazaraGenocide bewusst, dass ich mich vorher nie als Hazara ge-outet habe.“ Hazara sind rein optisch meist an ihren Gesichtszügen erkennbar wofür sie oft mit Begriffen wie „Chinesen“ belegt werden, dennoch verleugnen viele ihre Zugehörigkeit zu dieser traditionell unterdrückten, diskriminierten, verfolgten Volksgruppe.

Sozial ausgegrenzt

Weil sie aufgrund der Ausgrenzung meist zu den ärmeren Bevölkerungsschichten zählen, werden sie häufig als „mush chur“ (Mausfresser) beschimpft. Ein schon unter jungen Kindern verbreitets Schimpfwort, das früh die Reaktion erzeugt: „Ich bin kein Hazara!“, erzählt Tavakoli im Interview mit Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… „Das war so ein schwerer innerer Konflikt, weil wir oft sogar unter afghanischen Freundinnen und Freunden nochmals diskriminiert werden.“

Tränen – Stolz – Aktivismus

Bis zum Herbst habe er „nie gesagt, dass ich ein Hazara bin, ich war mental nicht wirklich dazu bereit“, erklärt der Wissenschafter und Aktivist und gesteht „in dem Moment, wo ich mir bewusst geworden bin, dass ich auch dazu stehen will und muss, hab ich sogar geweint. Aber jetzt bin ich explizit stolz darauf, ein Hazara zu sein und fühle mich verpflichtet, etwas gegen diese doppelte Unterdrückung zu tun.“

Dazu zählt er – eigentlich ähnlich wie mit IGASUS und dem Werben für Bildung – „einerseits in der Volksgruppe das Bewusstsein zu schaffen, dazu zu stehen. Das ist nicht immer leicht, denn Diskriminierungen haben immer auch Auswirkungen auf das tägliche Leben – im Beruf, in der Familien, im Freundeskreis. Und andererseits aufzuklären über die Verfolgungen – historisch und aktuell.“

Übrigens dürfte deutlich mehr als die Hälfte der rund 45.000 Afghan:innen in Österreich der Volksgruppe der Hazara angehören (ca. 60 %).

in Social media gepostets Foto einer Aktion gegen Morde an Hazara
In Social media gepostets Foto einer Aktion gegen Morde an Hazara

Verfolgung der Hazara

Zwischen 1890 und 1901 gab es unter dem Paschtunen-Führer Rahman Khan einen ersten Völkermord an den Hazara, die einen Dialekt des persischen Farsi sprechen, Hazaraghi. Sie leb(t)en vorwiegend um die Städte Ghazni, Mazar i Sharif, und Bamyan.

Die meisten Hazara sind schiitische Muslime – nicht ausschließlich, es gibt auch Sunniten, Aleviten, Christen, Buddhisten und Angehörige ohne Religion. Als Schiiten sind sie für die be-herrschenden Paschtunen Kafir, sogenannte Ungläubige.

In der Ära des Genozids Ende des vorvorigen Jahrhunderts wurden fast zwei Drittel der Hazara in Zentralafghanistan getötet. Den meisten anderen wurden ihre Länder gestohlen, sie selbst wurden verkauft, versklavt oder zwangsumgesiedelt.

Und das ist keine rein historische, vergangene Geschichte. Taliban- oder IS-Anschläge richten sich sehr oft gezielt auf Einrichtungen oder Ansiedlungen von Hazara. Und sogar die vom Westen gestützten Regierungen in den rund 20 Jahren zwischen den Taliban-Herrschaften haben zumindest kaum bis nichts gegen die Verfolgung dieser Volksgruppe unternommen.

An den Unis gab es eigentlich prozentuelle Anteile der Volksgruppen, der Zugang für Hazara wurde allerdings massiv eingeschränkt. Gesundheitseinrichtungen und Geburtskliniken wurden gezielt in Hazara-Regionen angegriffen. Gleiches gilt für Bombenanschläge auf Bildungseinrichtungen, Hochzeiten und andere Zeremonien.

in Social media gepostets Foto einer Aktion gegen Morde an Hazara
In Social media gepostets Foto einer Aktion gegen Morde an Hazara

Diskriminierung auch in der Zeit zwischen den Taliban-Herrschaften

Schon vor Jahren, in der Regierungszeit von Ashraf Ghani, sollte Hazarajat mit Stromleitungen versorgt werden. Das Projekt wurde zurückgezogen, die Leitungen rund um die Siedlungsgebiete der Hazara gebaut. Die 20 Jahre der vom Westen unterstützten Regierungen brachten zwar eine Phase gewisser Erholung, aber schon in den letzten Monaten vor der neuerlichen Machtübernahme der Taliban Mitte August 2021 hatten die Attacken, Verfolgungen, Diskriminierungen und Morde wieder zugenommen. Erst recht seit Mitte August 2021, der neuerlichen Machtübernahme der Taliban; die Anschläge werden auf der Website https://stophazaragenocide.org/ dokumentiert.

in Social media gepostets Foto einer Aktion gegen Morde an Hazara
In Social media gepostets Foto einer Aktion gegen Morde an Hazara

Internationale Kampagne

Im Herbst des vergegangenen Jahres begannen sich Initiativen in vielen Ländern zu vereinen und starteten die genannte Kampagne „Stopp den Völkermord an den Hazara“. Mit dem ebenfalls oben schon zitierten Hashtag läuft sie im Internet auf den verschiedensten Plattformen, aber auch mit Demonstrationen und Kundgebungen auf Straßen und Plätzen und Petitionen an Regierungen und internationale Institutionen, sich gegen diesen Genozid auszusprechen, bei den Taliban zu protestieren, sie zu boykottieren…

Auch seriöse Diskussionen

Nicht alle, die die tödliche Verfolgung der Hazara verurteilen, sprechen von Völkermord, manche wie der bekannte Politologe Thomas Schmidinger etwa schrieb in Postings auf Social Media u.a.: „Ich halte es für eine sehr problematische Entwicklung, dass seit einigen Jahren geradezu ein Wettbewerb einsetzt, wer die schrilleren Töne anschlägt und jede Repression und Gewalt, jedes Kriegsverbrechen gleich zum Genozid erklärt. Mittlerweile wird von manchen schon in der Ukraine der Genozidbegriff verwendet und von Hazara-Aktivisten wird auch dazu aufgerufen einen Genozid der Taliban an ihnen zu stoppen.“ Im Verlauf einer längeren Diskussion ergänzte Schmidinger: „Grausame Anschläge einer Terrororganisation sind etwas anderes als ein Genozid zu dem eben auch so etwas wie eine de facto Macht gehört, einen solchen irgendwie auch nur annähernd umsetzen zu können. Ganz praktisch fürchte ich, dass derzeit eine weitere Destabilisierung der Taliban leider genau jenen nutzen würde, die tatsächlich einen Genozid an den Hazara verüben würden, nämlich dem IS. Der ist nämlich um vieles stärker als die letzten Reste des alten Regimes im Panjir-Tal.“

in Social media gepostets Foto einer Aktion gegen Morde an Hazara
In Social media gepostets Foto einer Aktion gegen Morde an Hazara

Bewusst machen

Wie auch immer – ob als Völkermord oder „nur“ als tödliche Verfolgung – die Hazara sind in Afghanistan weiter mehr als bedroht, in Zufluchtsländern oft doppelt diskriminiert und machen in vielen Ländern mit der Kampagne unter dem genannten Hashtag auf die Lage ihrer Volksgruppe aufmerksam. Und sie sehen ihre Verfolgung auch nicht als singulären Akt, sondern solidarisieren sich in vielen ihrer Aktionen auch mit allen anderen diskriminierten Gruppen – nicht nur, aber besonders, in Afghanistan und dem Iran. So riefen sie auch zu Kundgebungen auf, bei denen es um den Widerstand (nicht nur) der Frauen im Iran und für das Recht auf Lernen auch für Mädchen in Afghanistan ging/geht u.a. im Jänner auf dem Wiener Stephansplatz mit der Losung „Unterstützung afghanischer Frauen – gegen die Geschlechter-Apartheid der Taliban“.

In den vergangenen Monaten haben gewählte Vertretungen – Parlamente in Australien, Großbritannien -, gegen Ende März auch der Wiener Gemeinderat „die schweren Menschenrechtsverletzungen, denen die Völkergruppe der Hazaras ausgesetzt ist“ verurteilt und in dem Fall auch „den Bundesminister für europäische und internationalen Angelegenheiten ersucht, sich innerhalb der Europäischen Union und der Vereinten Nationen für den Schutz der Hazaras … einzusetzen“.

Follow@kiJuKUheinz

Stop Hazara Genocide.org

Amnesty international -> Hazara

Twitter -> #stophazaragenocide