Kinder Jugend Kultur und mehr - Logo
Kinder Jugend Kultur Und mehr...
Szenenfoto aus "Karpatenflecken" im Vestibül des Burgtheaters
Szenenfoto aus "Karpatenflecken" im Vestibül des Burgtheaters
30.12.2023

Enge und Weite im wechselvollen, mehrsprachigen Wurzelort

„Karpatenflecken“ – das beste Stück des Jahres spielt noch weiter in dieser Saison im Vestibül des Wiener Burgtheaters.

War die Kulisse bei der Version des Deutschen Theaters Berlin riesig, wahrhaft ein Gebirge, so spielt die Wiener Version von „Karpatenflecken“ auf engstem Raum. Im Vestibül des Burgtheaters läuft – hin und wieder – die heuer mit dem Nestroy-Preis fürs das beste Stück des Jahres ausgezeichnete sehr dichte Geschichte dreier Frauen aus drei Generationen. In die persönlichen Lebenserfahrungen von Großmutter, Mutter und Enkelin hat der Autor Thomas Perle die Geschichte von Flucht, Vertreibung, wechselnden Herrschaften in (s)einem Wurzelort verdichtet. Mit dem Text hatte er vor vier Jahren den Retzhofer Dramapreis – und damit die Realisierung durch das Burgtheater – gewonnen. Corona und Burgtheater-Renovierung hatten die Realisierung verschoben, sodass die Berliner Version, die im Vorjahr in Graz beim Dramatiker:innen-Festival gastierte, früher gespielt worden war – Link zu einer Besprechung dieser Version am Ende dieses Beitrages.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Karpatenflecken“ im Vestibül des Burgtheaters

Der Prolog – in dieser Version ein Zweigespräch von Baumkrone und -Wurzel – spielt sich noch zwischen vor und hinter den wenigen Publikumsreihen im Vestibül ab – sozusagen ein Tribünen-Hügelchen. Danach agiert das Trio in einer aus schwarzen Vorhängen gestalteten Box, die einerseits Zimmer, andererseits Wald, Wege und was auch immer darstellt (Bühne: Moritz Müller). Die drei ineinander verschachtelten gestapelten Sessel vermitteln einen Hauch von „Gebirge“. Über einen Diaprojektor werden Bilder aus den verschiedenen Epochen der Geschichte dieser Gegend gezeigt – und wie auf einem Abrisskalender die jeweiligen Jahreszahlen – auch wenn da immer wieder hin- und hergesprungen wird – wie Erzählungen ja nicht immer chronologisch erfolgen.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Karpatenflecken“ im Vestibül des Burgtheaters

Sprachenvielfalt

Der Autor, der selber (1987) im siebenbürgischen Oberwischau geboren wurde (vier Jahre später wanderte die Familie nach Deutschland aus, er lebt in Österreich, verbringt aber jedes Jahr einige Zeit in seinem „Wurzelort“), wollte nicht nur die wechselvolle Geschichte authentisch durch die drei Protagonistinnen erzählen, sondern auch die Sprachenvielfalt zu Gehör bringen und das „Zipserisch“ (Wisaudeutsch) ein Stück weit auch erhalten. Er selbst ist mit dieser sowie mit Rumänisch und Ungarisch aufgewachsen. In seiner Dankesrede zum Nestroypreis lobte er vor allem die meisterhafte Leistung der Schauspielerinnen, sich das angetan zu haben, diesen Dialekt zu lernen.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Karpatenflecken“ im Vestibül des Burgtheaters

Migration jederzeit

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter Kaiserin Maria Theresia waren etliche Menschen aus dem Salzkammergut dazu gebracht worden, sich in den Waldkarpaten im nördlichen Rumänien anzusiedeln – zwecks Salzgewinnung. Die Kolonisti:nnen der Monarchie blieben. Die Großmutter des Stücks (abgearbeitet hart Elisabeth Augustin) wurde somit im späteren Königreich Rumänien geboren, ihre Schwester Erika („nein Ildiko!“), die gegen Ende auftaucht und – so wie zuvor die Tochter der Oma und Mutter der Enkelin – von Stefanie Dvorak sehr überzeugend gespielt wird, wuchs unter dem autoritären ungarischen Regime von Miklós Horthy in Ungarn auf. Die Tochter/Mutter kam in der nach dem zweiten Weltkrieg gewordenen „Volksrepublik“ auf die Welt, die Jüngste, die Enkelin (Lena Kalisch, die sich anfangs symbolisch aus unter dem Boden ins Haus wurstelt und damit auch zeigt, wie ihr alles hier zu eng ist) wurde kurz vor dem Ende des sogenannten Sozialismus geboren. Und verfolgt – im Stück erzählend (Regie: Mira Stadler) – wie sie im TV das Ende der Diktatur der Ceaușescus fiebernd miterlebten.

Die Familie nutzte das Ende des Eisernen Vorhangs, um nach Deutschland zu ziehen – wo sie sich als „Teitsche“ offene Aufnahme erhofften, aber frisch wieder marginalisiert wurden.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Karpatenflecken“ im Vestibül des Burgtheaters

Weite und Enge

Dieser große historische Bogen spielt sich auf engem Raum und doch in großer Weite durch die „kleinen“ Alltags-Erlebnisse ab. Das große, offene Europa hingegen schrumpft auf kleingeistige Ressentiments immer gegen andere. Kulminiert in einer recht schrägen Szene – das Trio schnappt sich eine Bodenplatte, legt sie sich auf ihre Schöße als Tisch. Oma streitet mit ihrer Schwester, weshalb diese Ungarisch rede. Doch als die Viktor Orbán lobt, weil der so gegen Fremde ist, beginnt sie ihr beizupflichten. Bis es der Jüngsten reicht und sie die Großmutter und in dem Fall Tante darauf hinweist, dass sie doch selbst ständig Flüchtlinge waren. „Aber das ist was ganz anderes“, versuchen die sich zu rechtfertigen, „wir sind immer Christen gewesen!“

Follow@kiJuKUheinz

INFOS: WAS? WER? WANN? WO?

Karpatenflecken

von Thomas Perle
eine Stunde

Großmutter / Der Berg: Elisabeth Augustin
Mutter / Tante Erika bzw. Ildiko / Der Wald: Stefanie Dvorak
Tochter bzw. Enkelin: Lena Kalisch

Regie: Mira Stadler
Bühne: Moritz Müller
Kostüme: Elena Kreuzberger
Musik: Bernhard Eder
Licht: Enrico Zych
Dramaturgie: Alexander Kerlin

Regie-Assistenz: Uwe Reichwaldt
Bühnenbild-Assistenz: Julia Artmayr
Inspizienz: Bianca Eibensteiner
Soufflage: Marie-Luise Fürnsinn
Ton: Christian Strnad
Requisite: Roland Soyka

Die Inszenierung ist in Kooperation mit dem Drama Forum entstanden.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Wann & wo?

8., 17. Jänner 2024
22. Februar 2024
Vestibül im Burgtheater: 1010, Universitätsring 2
Telefon: 01 51 444 4545
burgtheater -> karpatenflecken

Das Buch

(Basis für das Stück)

Text: Thomas Perle
wir gingen, weil alle gingen
130 Seiten
edition exil
12 €
editionexil -> wir gingen weil alle gingen